Seit mehr als 20 Jahren war ich Mitglied der Mailingliste der Gesellschaft für Japan-Forschung (GJF), „J-Studien“. Vielleicht auch noch länger, denn die Liste wurde 1997 gegründet, und ich bin nach meiner Erinnerung ziemlich von Anfang an dabeigewesen. Als eines der eher aktiven Mitglieder; was heißen soll: Ich habe dort ziemlich viel eingebracht; nicht immer zum Vergnügen aller.

Vor wenigen Tagen teilte der Vorstand der GJF, der Inhaber der Liste ist, mit, deren Regeln für Beiträge überarbeitet zu haben. Als ich mir diese Regeln ansah, fand ich darin auch eine Bitte ausgesprochen, nämlich:

Wir bitten Sie, sich in Ihren Beiträgen an gendergerechter Sprache zu orientieren, wie zum Beispiel durch die Verwendung eines „Gendersterns“ oder Doppelpunkts.

https://lists.fu-berlin.de/listinfo/j-studien, Stand: 3.2.2024

Ich bin daraufhin aus der Liste ausgetreten. Denn ich sehe darin, wie man in der Linguistik sagt, eine „abgeschwächte Imperativbitte“ — pure „Solidaritätshöflichkeit“.

Wenn beispielsweise bei einer Bahnfahrt der Zugschaffner zu einem Reisenden sagt: „Bitte nehmen Sie die Füße vom Sitz“, dann wird niemand, der bei klarem Verstand ist, dies als unverbindliche Bitte auffassen. Ändert man sein Verhalten nicht entsprechend, wird das als unhöflich und als Verstoß gegen die Verhaltensnormen gewertet.

Hierin liegt der entscheidende Punkt: Jede so geäußerte Bitte stellt den Ausdruck einer Präferenz dar. Es ist aus der Sicht des Sprechers „besser“, sich so (und nicht anders) zu verhalten. Das bedeutet logischerweise, daß alle anderen Verhaltensweisen „weniger gut“ sind, also abgewertet werden.

Hierin zeigt sich die normative Kraft solcher Bitten, unabhängig davon, ob sie mit Sanktionen (wie dem Ausschluß aus der Liste) bewehrt sind oder nicht. Es hülfe auch nichts, sie umzuformulieren, z.B. in „Es wäre besser …“, „Wir wünschen uns …“ o.ä.: Im Ergebnis wird immer eine Norm gesetzt.

Der Soziologe Jan Rommerskirchen hat diesen Zusammenhang zwischen (imperativer) Bitte und Normensetzung wie folgt formuliert:

Regulativen Sprechakten mit Richtigkeitsansprüchen liegen … implizite Anerkennungen einer sozialen Welt zugrunde, die das Verhalten der Akteure als Mitglieder dieser sozialen Welt normativ binden.

Jan Rommerskirchen: Soziologie & Kommunikation. Heidelberg 2014, S. 274

Wenn ich also weiter Zug fahre, ohne die Füße vom Sitz zu nehmen, oder Beiträge poste, ohne „gendergerechte“ Sprache zu verwenden, verstoße ich gegen die ausdrücklich genannte Norm. Das ist dann unerwünscht, unhöflich, im schlimmsten Fall sogar ein Grund zur sozialen Ächtung.

Soweit der Beitrag, wie ich ihn am 3.2.2024 hier veröffentlicht habe. Inzwischen (am 4.2.) habe ich erfahren, daß die Änderung, die mir so sauer aufgestoßen ist, tatsächlich spätestens 2021 erfolgt sein muß. Seinerzeit, im Januar 2021, gab es auf der J-Studien-Liste eine kurze, aber sehr hitzige Debatte erfahren zum Thema Gendern. Ich erhielt damals einigen Widerspruch gegen meinen Standpunkt. So twitterte eine Person:

auf einer mailing-liste für japanolog:innen hat sich in den letzten wochen gezeigt, dass auch hochrangige professoren nur alte, weiße männer sind. … kann man bitte hinterfragen, ob es nicht an der zeit ist, jene professoren zu ersetzen

Und eine andere schrieb auf der Liste:

Da in manchen akademischen Kreisen nicht einmal die Rechtschreibreform von 1996 (und somit eine neue regelhafte Form) Einzug gefunden hat, hoffte ich auf progressivere Gedanken im Hinblick auf eine nicht-diskriminierende deutsche Sprache.

Solche und andere heftigen Reaktionen mögen erklären, warum ich über diese Änderung gestolpert und mich derartig darüber geärgert habe, daß ich aus der Liste ausgetreten bin. Wäre die Änderung tatsächlich erst jetzt erfolgt, fände ich das auch jetzt noch die richtige Reaktion.

Da ich nun aber weiß, daß sie schon vor mehreren Jahren erfolgt ist, ohne daß mir (oder einem anderen Listennutzer) aufgefallen wäre — sie ist also mithin praktisch folgenlos geblieben –, war meine Reaktion gestern falsch. Nach wie vor finde ich die „Bitte“ falsch und deplaziert. Aber da sie drei Jahre lang unentdeckt und unbeachtet geblieben ist, wäre ihre Skandalisierung zum jetzigen Zeitpunkt unangemessen.

Deshalb habe ich mich jetzt der Liste wieder angeschlossen. Der Irrtum ist mir anzulasten; dafür bitte ich um Entschuldigung. Hier hat, wie ein Historiker vielleicht sagen würde, meine „äußere Quellenkritik“ nicht gestimmt. Die „innere Quellenkritik“ halte ich nach wie vor für richtig, aber das steht auf einem anderen Blatt.