Soeben ist in Berlin Verkehrssenatorin Manja Schreiner zurückgetreten, weil ihr wegen Plagiaten in ihrer Dissertation der Doktortitel entzogen wird. Damit befindet sie sich im deutschen Sprachraum in illustrer Gesellschaft; Franziska Giffey (Bundesfamilienministerin), Karl-Theodor zu Guttenberg (Bundesverteidigungsminister) und Annette Schavan (Bundeswissenschaftsministerin) sind nur einige prominente Beispiele.

Nicht wegen eines Plagiats in einer Abschlußarbeit, sondern wegen des Verdachts, überhaupt keinen Abschluß zu haben, ist nun die Gouverneurin von Tōkyō, Koike Yuriko 小池百合子, in Japan ins Gerede gekommen. Denn Koike behauptet seit langem, 1976 einen Bachelor-Grad an der Universität von Kairo erworben zu haben.

Der Vater der damals 24-Jährigen war Koike Yūjirō 小池勇二郎, ein recht erfolgloser, aber mit dem rechtspopulistischen Politiker Ishihara Shintarō verbandelter Geschäftsmann, der seit 1970 mit dem ägyptischen Politiker Mohammed Abdel-Kader Hatem, einem Vertrauten von Ägyptens Staatspräsidenten Anwar as-Sadat, in engem Kontakt stand. Nachdem sein Versuch gescheitert war, in den Ölhandel einzusteigen,1 betrieb er in Kairo ein Restaurant. Auch dieses ging bankrott, aber da war seine Tochter Yuriko bereits als Studentin an der Universität von Kairo eingeschrieben. 1974 heiratete sie einen japanischen Kommilitonen, der allerdings genau wie sie selbst in seinem Studium nicht recht weiterkam und nach Saudi-Arabien weiterzog. Die Ehe wurde 1977 geschieden.2 Kurz zuvor, im Oktober 1976, so behauptet Koike, habe sie ihr Bachelor-Examen mit Bestnote bestanden.

Allerdings kann sie dafür offenbar kein Zeugnis vorweisen. Eine japanische Sachbuchschriftstellerin meldete 2020 in einer Biografie Koikes Zweifel an dieser Darstellung an.3 Sie hatte eine damalige Kommilitonin ausfindig gemacht, welche angab, Koike habe ihr Studium tatsächlich schon nach zwei Jahren (1974 also) aufgegeben. Die ägyptische Botschaft in Japan reagierte im Juni 2020 — während des Wahlkampfes zum Gouverneursamt — darauf mit der Veröffentlichung einer Erklärung im Namen der Universität von Kairo, die ihren Abschluß „durch das reguläre Verfahren“ bestätigte. Mitte April 2024 behauptete ein früherer Mitarbeiter Koikes in der Zeitschrift Bungei Shunjū 文藝春秋 jedoch, diese Erklärung (die auf englisch und japanisch, nicht aber auf arabisch und nur auf dem Facebook-Account der ägyptischen Botschaft veröffentlicht wurde) sei von einem befreundeten Journalisten konzipiert worden und beweise gar nichts.4

Die Zeitschrift sprach auch mit jener Kommilitonin, deren Zweifel bereits 2020 zitiert worden waren. Damals blieb sie anonym, dieses Mal gab sie ihren Klarnamen preis und bekräftigte: Koike habe 1976 selbst gesagt, sie sei durchgefallen, und sie habe auch keine Chance auf eine neue Prüfung gehabt.5

Nun ist es nicht ungewöhnlich für japanische Politiker, keinen Schul- oder Universitätsabschluß zu haben. In gewisser Weise folgt dies einer langen Tradition, die der Japanologe Ivan Morris bekanntlich als „Adel des Scheiterns“ bezeichnete.6 Man kann auch ohne Abitur und akademischen Grad glücklich und erfolgreich werden.

Aber der Fall Koikes ist aus zwei Gründen brisant. Der renommierte japanische Wirtschaftswissenschaftler Matoba Akihiro 的場昭弘 äußert eine Vermutung, was sich 1976 tatsächlich zugetragen haben könnte:

Die Graduierung von Koike Yuriko könnte unabhängig von ihrer Einschreibung genehmigt worden sein. Als Sadats Nummer Zwei war Hatem dazu durchaus in der Lage, und politische Erwägungen könnten dabei eine Rolle gespielt haben.7

Der Verdacht steht also im Raum, daß Koike, wenn sie denn tatsächlich einen Abschluß erhalten hat, diesen nur den guten Beziehungen ihrer Familie zur Politik zu verdanken hat.8 Dies würfe ein äußerst bedenkliches Licht auf die Verquickung von Wissenschaft und Politik in Japan — auch wenn die faktische Existenz einer solchen Gefälligkeitskultur von vielen Japanern ohnehin unterstellt wird. Für ein Land, das sich als wissenschaftliche Großmacht versteht, ist das schlicht peinlich.

Der nicht weniger renommierte Rechts- und Verfassungswissenschaftler Mizushima Asaho 水島朝穂 weist aber auf den zweiten wichtigen Punkt hin, der Koikes weitere Karriere bedrohen könnte:

Wenn sie vorgibt, ein Studium absolviert zu haben, obwohl dies nicht der Fall ist, handelt es sich um eine Straftat der Falschdarstellung von Angelegenheiten gemäß Artikel 235 (2) des Gesetzes über öffentliche Wahlen, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu vier Jahren geahndet wird. Sie hat die Wähler seit 32 Jahren getäuscht, seit sie 1992 ins Oberhaus gewählt wurde.

水島朝穂の「平和憲法のメッセージ」
「直言」ニュース 2024年4月29日

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Vorwürfe ist nicht zufällig. Im Juli 2024 steht die nächste Gouverneurswahl in Tōkyō an. Die 71-jährige Koike kandidiert erneut und hat gute Aussichten auf ihre Wiederwahl. Bislang jedenfalls. Für Mizushima ist dies ein Skandal:

Sie sollte ihre Kandidatur für die Gouverneurswahlen im Juli zurückziehen.

Das Beitragsbild zeigt Koike bei einem Wirtschaftsforum 2008 im ägyptischen Sharm El-Sheich.

  1. https://article.auone.jp/detail/1/3/6/7_6_r_20240418_1713387991757683 ↩︎
  2. https://ja.wikipedia.org/wiki/%E5%B0%8F%E6%B1%A0%E7%99%BE%E5%90%88%E5%AD%90 ↩︎
  3. Ishii Taeko 石井妙子: Jotei Koike Yuriko 女帝 小池百合子. Bungei Shunjūsha 2020 ↩︎
  4. https://www.tokyoweekender.com/japan-life/news-and-opinion/tokyo-governor-koike-accused-of-lying-about-university-degree/ ↩︎
  5. https://bunshun.jp/articles/-/66940 ↩︎
  6. Morris, Ivan: The Nobility of Failure. Tragic Heroes in the History of Japan. Harmondsworth: Penguin (1980). Deutsch als: Samurai oder Von der Würde des Scheiterns. Tragische Helden in der Geschichte Japans. Berlin: Verlag der Weltreligionen (1989) ↩︎
  7. https://article.auone.jp/detail/1/3/6/7_6_r_20240418_1713387991757683 ↩︎
  8. Ähnlich äußert sich auch Koikes ehemalige Kommilitonin aus Kairo heute: https://bunshun.jp/articles/-/66940 ↩︎