Der Winter ist fast vorbei, der Karneval auch, Hochschulen und Schulen stecken in der Prüfungsphase. Zeit also, um sich Gedanken um die Zukunft zu machen. Denkt sich auch ein Abiturient, der vorhat, in Bonn IT zu studieren, und dazu Japanisch lernen will — vorher aber von mir bestätigt haben will, daß man davon „große wirtschaftliche Vorteile“ hat.

Was soll man dazu sagen? Kann sein, kann aber auch nicht sein? Ich selbst habe zweifellos „große wirtschaftliche Vorteile“ davon gehabt, daß ich Japanisch gelernt habe, denn sonst hätte ich meine Professur nicht bekommen. Aber das war sicher nicht alles. Weder wird man zwangsläufig reich, wenn man Japanisch lernt (leider), noch beschränkt sich der Nutzen des Japanischlernens auf ökonomische Aspekte. Japanisch kann, wie viele andere Sprachen auch, in einem völlig immateriellen Sinne bereichern — aber diesen Sinn muß jeder für sich entdecken. Das kann man nicht vorab garantieren. Trotzdem (oder gerade deshalb) lautet meine klare Empfehlung: Es lohnt sich immer, Japanisch zu lernen.

Oder von Japan zu lernen? Das wäre jedenfalls die Botschaft eines noch im Ruhestand sehr engagierten Berliner Lehrers, der auf seinem Blog „Für eine gute Schule“ angesichts der anhaltenden Misere des deutschen Bildungswesens vor ein paar Tagen (ganz präzise: ausgerechnet am 11. Februar, dem japanischen Staatsgründungsgedenktag) die Werbetrommel fürs japanische Schulsystem gerührt hat:

Wenig beachtet wird in Deutschland, dass an japanischen Schulen auch eine Lernkultur herrscht, die den Lehrern das Unterrichten enorm erleichtert. In allen japanischen Schulen dienen die ersten Schulwochen fast ausschließlich der Einübung wichtiger Arbeitshaltungen, Routinen und Spielregeln. Die Schüler lernen, worauf es in der Schule und vor allem im Unterricht ankommt. Auf die Einhaltung der Regeln zu dringen, obliegt nicht allein den Lehrkräften. Auch Schüler werden altersgerecht mit in die Verantwortung genommen. Zu den Pflichten der Schüler gehört außerdem das gemeinsame Saubermachen der Unterrichtsräume und die Essenverteilung in der Mensa. Schuluniformen sorgen für den Zusammenhalt der Schüler und die Zügelung egozentrischen Verhaltens. Zur japanischen Kultur gehört die Achtung vor den Lehrern, die als „Meister“ verehrt werden. Von einer solchen Lernkultur sind wir in Deutschland weit entfernt.

Rainer Werner: Was gegen die Schulmisere wirklich hilft

Nun habe ich selbst japanische Schulen nur als Beobachter kennengelernt (ja, wirklich: als Student habe ich an einer japanischen Mittelschule hospitiert); anders als meine Kinder, die von Grundschule bis Gymnasium immer wieder einmal dort Erfahrungen gesammelt haben. Deshalb zeigen sie gegenüber dem gutgemeinten Enthusiasmus des Herrn Werner eine gewisse Skepsis. Mein Sohn meint:

War er in den letzten 50 Jahren mal an einer japanischen Schule?

Das kann ich nicht beantworten, aber da es in meiner japanischen Schwiegerfamilie von Lehrerinnen nur so wimmelt, habe ich eine Menge Geschichten gehört, die — was das Verhalten von Schülern oder die Belastung (und Belästigung) von Lehrern angeht — kein so rosiges Bild zeichnen. Meine Tochter wiederum, die auf dem Sprung ist, selbst Lehrerin zu werden, kommentiert:

Das mag zwar alles sein, aber in Japan klappt Zusammenhalt unter den Schülerinnen und Schülern auch, weil der kulturelle Zusammenhalt groß ist. Ist viel einfacher, eine monolinguale Masse zusammenzubringen, die mit ähnlichen Werten, TV-Shows, Musik und Kunst aufgewachsen ist. Ich glaube nicht, dass deutsche Schulen sich an Japan unbedingt ein Vorbild nehmen müssen, sondern was (er)finden sollten, was funktioniert in einer Gesellschaft, die so unglaublich vermischt ist. Trotzdem stimmt das natürlich, dass Routine und Regeln Einhalten super wichtig ist beizubringen. Und Lehrer als „Meister“ anzuhimmeln ist fragwürdig.

Womit wir beim Elefanten im Porzellanladen angekommen wären, also jenem hessischen Geschichtslehrer, der in bestimmten Kreisen in Thüringen als Meister aus Deutschland angehimmelt wird und für seine faschistoide Vision eines „Deutschland den Deutschen“ mit seiner in großen Teilen als gesichert rechtsextremistisch bewerteten Partei eine Kampagne unter dem Motto „Mehr Japan wagen!“ inszeniert. Nein, ich verlinke das hier nicht. Wer danach suchen will, wird auf TikTok, Instagram, Facebook, X und dergleichen Zeugs ohne weiteres fündig. Hier nur ein besonders frivoles Zitat:

Wenn wir nicht den japanischen Weg gehen als Deutschland und Europa, dann werden wir in Deutschland und Europa eine kulturelle Kernschmelze erleben.

Der rechtsextreme Politiker Björn Höcke 2021

Einerseits ist das von Deutschlands führendem Rechtsextremen hier ausgesprochene Lob des japanischen Gastarbeitersystems zynisch. Hunderttausende „Praktikanten“ aus ganz Asien haben von den Vorzügen des japanischen Arbeitsmarkts vermutlich eine deutlich andere Vorstellung. Andererseits ist es geschmacklos, wie hier durch die Verwendung des Begriffs „Kernschmelze“ beim Hörer natürlich sofort Assoziationen zu Fukushima und Hiroshima geweckt werden. Aber dieses „rhetorische Stilmittel“ ist typisch für das „strategische Framing“ dieses Mannes, wie Berit Trottmann hervorhebt.1 Er verschiebt die Grenzen des Sagbaren — bis ins Unerträgliche. Und er knüpft an die Rhetorik der SS an, die während des Zweiten Weltkriegs die Samurai als löbliches Vorbild für deutschen Wehrgeist beschwor. Thomas Pekar stellt fest,

daß es sehr wohl ideologisch-weltanschauliche Einflüsse von Japan aus auf Nazi-Deutschland gegeben hat, auf einzelne Nazi-Größen, aber auch auf die Nazi-Ideologie selbst.

Thomas Pekar: Held und Samurai: Zu den ideologischen Beziehungen zwischen Japan und Nazi-Deutschland. Archiv für Kulturgeschichte 90:2 (2008)

Höcke hat übrigens auch einmal in Bonn studiert; Jura, also nicht mein Metier. Ob ihm sein „Mehr Japan wagen!“ „große politische Vorteile“ bringen wird, kann ich nicht vorhersagen. Wünschen kann ich es auf keinen Fall. Wenn sich die Geschichte wiederholt, dann hoffentlich so, wie es Karl Marx vorausgesagt hat: nicht als Tragödie, sondern als Farce.

Als Japanologe müßte man sich ja eigentlich freuen, wenn Schüler, Lehrer und Politiker sich für Japan interessieren. Aber wie stets gilt auch hier die Frage: Warum? Wozu? Und geht es hier wirklich um Japan an sich oder um Japan als Mittel zur wirtschaftlich-politisch-kulturellen Aneignung?

Eine rhetorische Frage? Ja und nein. Eine mäeutische Frage. Also eine Frage, die den Befragten zu einem im philosophischen Sinne besseren Leben führen will. Wenn die Beschäftigung mit Japan dazu dienen kann — dann gern und immer mehr davon.

Das Beitragsbild stammt von Claude Monet: La Japonaise (1876); es ist in den letzten Jahren ein Lieblingsobjekt der Debatte um kulturelle Aneignung geworden.

  1. Beritt Trottmann: Strategisches Framing bei Björn Höcke – wie ein rechtsextremer Politiker den Rahmen sprengt. Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 2:1 (2022) ↩︎