Man fragt sich, ob man nicht Mitleid mit den Japanern haben muß — oder ob die gegenwärtige desaströse Lage der Innenpolitik nicht doch das logische Ergebnis dieser gesellschaftlichen Strukturen ist.
Wie präsentiert sich Japans politische Elite?
Die Regierungspartei DJP kassiert im Sommer eine Niederlage bei der Oberhauswahl und verliert dort ihre Mehrheit. Damit ist sie nicht mehr in der Lage, Gesetze aus eigener Kraft auf den Weg zu bringen.
Innerhalb der Regierungspartei gibt es nun eine heftige Auseinandersetzung um den Parteivorsitz und damit das Amt des Ministerpräsidenten zwischen der Fraktion von Ozawa Ichirō (so etwas wie der geistige Vater der Partei, allerdings nie sonderlich populär, weil er sich gern benimmt wie die Axt im Walde; außerdem droht ihm ein Strafverfahren wegen einer Spendenaffäre) — das sind im wesentlichen alle aus der LDP Übergelaufenen — und der Fraktion von Kan Naoto (hervorgegangen aus dem Bürgerinitiativen-Lager der Partei und politisch weniger im Establishment verwurzelt).
Während dieser Auseinandersetzung (von den Parteimitgliedern durch Urwahl zugunsten Kans entschieden) kommt es bei den Senkaku-Inseln zu einer massiven chinesischen Provokation. Die Regierung, vollauf beschäftigt mit dem Nachfolge-Streit, reagiert schlapp und gibt China den Eindruck, sich durchgesetzt zu haben. Zwei Monate später werden die geheimen Videoaufzeichnungen dieser Provokation (die zeigen, wie ein chinesischer „Fischer“ mit voller Absicht ein japanisches Küstenwachboot rammt) auf Youtube veröffentlicht — von einem Mitglied der Küstenwache, der behauptet, aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben. Wer’s glaubt … Denn natürlich nutzt die Opposition diese Affäre, um gleichzeitig die „weiche“ Haltung der Regierung, deren Entscheidung, die Aufzeichnungen nicht zu veröffentlichen und deren unzureichenden Umgang mit Geheimnissen anzuprangern. Japans Ober-Rambo und Gouverneur von Tōkyō, Kryptofaschist Ishihara Shintarō, lobt die Veröffentlichung als patriotische Heldentat. Sein Sohn tritt inzwischen im Unterhaus als Scharfmacher Nr. 1 gegen die Regierung auf — mit allen Chancen, die Nachfolge seines Vaters als Ober-Armleuchter anzutreten. Daß sein Vater mit der Aufforderung an Beamte zum Geheimnisverrat soeben die parlamentarische Demokratie in Frage gestellt hat (deren Prinzip nun einmal die Loyalität der Staatsdiener zur gewählten Regierung ist), wird von niemandem (schon gar nicht den Tageszeitungen) thematisiert. (Die Medien üben sich übrigens in Scheinheiligkeit à la bonheur — unfähig, eigene vernünftige Recherchen durchzuführen, greifen sie lieber auf zweifelhaftes Material von Youtube, Wikileaks usw. zurück und tun so, als täten sie das nur widerwillig … Eigentlich zwingt sie ja niemand dazu.)
Nun der große Auftritt des Justizministers. Er erzählt in lustiger Absicht, als Justizminister müsse man, um im Parlament Fragestunden zu überstehen, nur zwei Sätze auswendig sagen können: Zu Details gebe ich keinen Kommentar ab und: Das werde ich nach Gesetzes- und Beweislage entscheiden. Dümmer geht’s nimmer, auch wenn er inhaltlich recht hat. Aber die Opposition schäumt, fordert und erhält seinen Kopf. (Ganz gut so, wenn man bedenkt, daß dieser Justizminister auch über anderer Leute Köpfe, nämlich die der Todeskandidaten, entscheiden muß. Wenn er das im selben Stil erledigt wie parlamentarische Anfragen, dann ist das ein Grund mehr zur Abschaffung der Todesstrafe. Die aber ist im Augenblick wieder ganz in Mode — obwohl doch die kurzlebige Vorgängerin unseres Justiz-Minister-Helden erst im Sommer eine breite öffentliche Debatte darüber anstoßen wollte. Wäre sie Justizministerin geblieben, hätte sich die DJP dieses Theater erspart. Hinterher ist man schlauer. Nun aber, ein halbes Jahr später, lobt die gesamte Öffentlichkeit einschließlich der Tageszeitungen die Entscheidung eines Geschworenengerichts, einen 19-Jährigen zum Tode zu verurteilen. So werden hierzulande öffentliche Debatten geführt.)
Die Opposition wittert jetzt Morgenluft und verabschiedet im Oberhaus parlamentarische Rügen gegen zwei weitere Minister — darunter den Kabinettsminister Senkoku, den wirklich starken Mann der DJP. Trotz laufender Haushaltsberatungen will sie mit den beiden, solange sie nicht zurücktreten, im Parlament nichts mehr zu tun haben. Auf deutsch: sie sabotiert die Haushaltsberatungen.
Und der Ministerpräsident wird dafür angegriffen, während des nordkoreanischen Feuerüberfalls auf eine südkoreanische Insel erst nach einer Dreiviertelstunde in seinem Büro gewesen zu sein. Als ob er in dieser Sache irgendetwas zu tun oder zu sagen gehabt hätte …

Fassen wir zusammen: Japans Innenpolitik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Regierung führt nicht, die Regierungspartei demontiert sich selbst, die Opposition ist destruktiv in einem Maße, das Zweifel an ihrer Verfassungstreue erlaubt. Japans politischer Einfluß in Ostasien und der Welt schrumpft folglich von Tag zu Tag. Diese Gesellschaft wird nicht mehr geführt, sie dümpelt vor sich hin. In eine sehr, sehr graue Zukunft. Jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils.