Ein 2018 vom englischen Gitarristen und Sänger Richard Durrant veröffentlichter Song mit dem Titel „Morris Dreams“ machte mich mit einem Phänomen der englischen Festkultur bekannt, dem Morris Dance, der bis heute im „Wonnemonat“ Mai in vielen ländlichen Gegenden des Inselreichs aufgeführt wird. Dabei führen kostümierte Gruppen von Männern (heute auch Frauen), die häufig Schellen an den Fußgelenken tragen und weiße Tücher oder Stöcke schwenken, Spalier- oder Rundtänze auf, häufig garniert mit Sprüngen und stilisierten Zweikämpfen.
Diese Tradition führt sich bis aufs 15. Jh. zurück und leitet sich von den auf dem Kontinent damals verbreiteten Moriskentänzen (spanisch und italienisch moresca) ab. Der Name stammt von „maurisch“ (auf englisch „moorish“) ab, und als Ursprung dieser Tänze wird vermutet, daß sie den Kampf der Mauren (spanisch moros; die im Frühen Mittelalter in Spanien eingedrungenen nordafrikanischen, dunkelhäutigen Araber) gegen die Christen auf der iberischen Halbinsel während der Reconquista nachspielen sollten. Der Musikwissenschaftler Willi Apel (1893–1988) definierte in seinem Harvard Dictionary of Music 1969 die Moresca als

einen pantomimischen Tanz des 15. und 16. Jahrhunderts, der in maurischen Kostümen und anderen grotesken Verkleidungen ausgeführt wurde, wobei die Tänzer ihre Gesichter geschwärzt und kleine Glocken an ihren Beinen befestigt hatten … Die Moresca war mit Abstand der beliebteste Tanz in den Balletten und Mummenschanzveranstaltungen der Renaissance. Es gab zwei Arten: einen Solotanz und einen Tanz zweier Gruppen, der einen Schwertkampf zwischen Christen und Moslems darstellte.

Schellentänze waren im europäischen Mittelalter nichts Ungewöhnliches. In Spanien gab es auch den „Tanz der Klapperer“ (Danza de Cascabeles), der heute in Alosno alljährlich als Teil des Festes für dessen Schutzpatron Johannes den Täufer am Johannistag (24. Juni) aufgeführt wird. Auch dabei wird mit Stöcken oder Kastagnetten und Schellen an den Fußgelenken getanzt. Vielleicht ist diese Tradition mit den ursprünglichen „Maurentänzen“ zusammengeflossen.1
Von Frankreich ausgehend, entwickelte sich die Moresca zu einem beliebten Bestandteil der höfischen Kultur in ganz Europa „als körperlich ausgetragener Liebes-Wettbewerb“.2 In Re-thinking Renaissance Objects beschreibt Paula Nutall eine typische Moresca-Inszenierung:

Eine Gruppe exotisch gekleideter Männer führt unter den Augen eines vornehm gekleideten Publikums einen anscheinend erotisch aufgeladenen, rasenden Tanz um eine Frau auf, während ein Narr mit seiner Handklapper suggestiv posiert.

Diese Tänze wurden als folía bezeichnet, also als „toller Tanz“ („toll“ wie in „Tollwut“); die Folía wurde ein bis heute beliebtes Kompositionsschema der Barockmusik (z.B. Händels berühmte Sarabande oder Conquest of Paradise von Vangelis).
Jedenfalls zeigen die bekanntesten spätmittelalterlichen Darstellungen von Moriskentänzern sowohl „weiße“ als auch „schwarze“ Tänzer mit Schellen an den Beinen. Besonders bekannt wurden neben den 1500 vollendeten Figuren am Prunkerker des Goldenen Dachls in Innsbruck die 1480 von Erasmus Grasser für das Tanzhaus der Stadt München geschnitzten Figuren (s. Beitragsbild). Die heutige Forschung erklärt sie zu einem „vielleicht auch nicht mehr bis ins Letzte nachvollziehbaren Element der Herrschaftsrepräsentation“:3 Die Exotik (nicht nur) der schwarzen Tänzer bildet den Anspruch der Kaiser auf weltumfassende Herrschaft ab. Zugleich machen sich die Schellentänzer vor dem Kaiser zum Narren.
Moresca aus Freydal, fol. 36
Darstellung einer Moresca im Freydal, einer epischen Darstellung des Lebens von Kaiser Maximilian I. (ca. 1512)

Solche politischen Deutungen lassen sich auf die zum Bestandteil der Volkskultur gewordenen Tänze jedoch nicht anwenden. Die Idee vom Universalkaisertum und die höfische Moresca sind schon längst Geschichte, weshalb es müßig ist, sie nach den Maßstäben der heutigen Rassismus-Debatte zu beurteilen. Im Nordosten Portugals wird bis heute eine Variante der Moresca als Pauliteiros de Miranda aufgeführt, die ohne Schellen und ohne Schwarzfärbung der Gesichter auskommt, aber das ursprüngliche Kampfmotiv mit Stöcken anstelle von Schwertern beibehält:


Die musikalische und performative Ähnlichkeit zum Morris Dance, wie er in England von der Gruppe Beltane Border aufgeführt wird, ist unverkennbar. Auch hier wird ohne Schellen und mit Stöcken getanzt, aber mit Blackface:

Diese Schwarzfärbung der Gesichter im Morris Dance hat allerdings nicht unbedingt etwas mit den Mauren zu tun. Domokos meint vielmehr:

Die Einführung eines Schwarzen in diesen ziemlich närrischen Tanz mit seinem oft bereits verblaßten mythischen und alten, obszönen Abschluß, erinnert an einen mehrere Jahrhunderte alten Brauch. Es ist zweifellos bedeutend, daß dieser „Mohr“ oft ein „Wilder Mann“ oder „Narr“ oder der „Tod“ ist. … Die Benennung morisco oder Mohr bedeutet, daß seinerzeit die Tänzer zur Vollziehung des der Jahreszeit entsprechenden Ritus ihre Gesichter schwarz färbten.4

Ähnlich argumentiert auch die Tanzgruppe Beltane Border selbst:

Die Verwendung von Gesichtsbemalung hat nichts mit der Rasse zu tun. Es handelt sich um eine Form der Verkleidung, die sich auf Darbietungen für Geld (Tanzen oder Mummenschanz) bezieht, die von den werktätigen Klassen zur Beschaffung von Geld durchgeführt wurden. Die Verkleidung war notwendig, damit die Darsteller nicht erkannt und wegen Bettelns belangt oder von ihren Grundherren schikaniert wurden. Die Verkleidung knüpft auch an tiefere Traditionen der Anonymität, des Geheimnisvollen, des Übernatürlichen, des Unheimlichen und der dunklen Seite an.

Trotz dieser Argumente entschieden sich die Verbände für Morris Dance 2020, unter dem Druck der Black Lives Matter-Bewegung auf Blackfacing künftig zu verzichten und statt dessen bunte Farben zu wählen; Gruppen, die weiterhin mit schwarzgefärbten Gesichtern auftreten, sollen ausgeschlossen werden. Beltane Border nahm dazu wie folgt Stellung:

Wir verwenden die lebendigen Farben der Natur, um unsere Gesichter zu verbergen, und nicht das Schwarz des Rußes. Wir sind dem lauten Ruf gefolgt, die Empfindlichkeiten unserer Zeit anzuerkennen, und wir freuen uns, die heutigen Sorgen zu erkennen und gleichzeitig unserer Geschichte zu gedenken.


1Domokos 1968, S. 229
2Wald-Fuhrmann 2022, S. 148
3Wald-Fuhrmann 2022, S. 155
3Domokos 1968, S. 232

Literatur

Domokos, Pál Péter: „Der Moriskentanz in Europa und in der ungarischen Tradition.“ Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 10:3/4 (1968), S. 229-311
Gschwandtner, Charlotte: Moresca: Vielfalt und Konstanten einer Tanzpraxis zwischen 15. und frühem 17. Jahrhundert. Leipzig 2017
Motture, Peta und Michelle O’Malley (Hg.): Re-thinking Renaissance Objects: Design, Function and Meaning. Hoboken 2011
Nettl, Paul: Die Moresca. Stuttgart 1957
Wald-Fuhrmann, Melanie: „Ikonographisch-musikalische Repräsentationspolitik — Die Morisken-Tänzer am Goldenen Dachl„. 2022.