Als ich 21 war, schenkte mir meine in Potsdam lebende Tante Lichtenbergs Werke in einem Band aus der Bibliothek deutscher Klassiker, die zum einzig Guten zählte, das die DDR je hervorgebracht hat. Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) gehörte zu den Wegbereitern der Aufklärung in Deutschland, vor allem aber war er einer der geistreichsten Verfasser von Aphorismen in deutscher Sprache — also jener Sprüche, die man heute auf jedem T-Shirt und jeder Einkaufstasche bewundern kann.
Damals las ich Lichtenbergs „Einfälle und Bemerkungen“ sehr fleißig, um mein eigenes Repertoire zu erweitern, und begann damit, mir eigene Sprüche auszudenken. Das Beste, was mir eingefallen ist und was bis heute überlebt hat (meine Kinder sind dafür meine Zeugen), ist:
Auch aus kleinen Steinen kann man große Funken schlagen.
Ein wirklich vielseitig anwendbares Bonmot, das sich sowohl als Ermutigung als auch als Schmähkritik einsetzen läßt, wie es das Kennzeichen jedes genialen Spruches ist. Das Problem damit ist nur, daß es von mir stammt und deshalb niemals irgendwo zitiert werden wird. Damit es gebührende Anerkennung findet und der Nachwelt überliefert wird, hilft jedoch hoffentlich ein kleiner Trick:
Auch aus kleinen Steinen kann man große Funken schlagen.
(Konfuzius)
Das Internet ist voll mit solchen Zitaten von Konfuzius, Laotse, Gandhi, Buddha und anderen asiatischen Geistesgrößen, die sehr schön klingen, aber oftmals entweder gar keine oder nur eine auf einer falschen Übersetzung beruhende Grundlage in den tatsächlichen Äußerungen dieser Personen besitzen oder gar völlig frei erfunden sind. Etliche einschlägige Beispiele „chinesischer“ Weisheit in deutscher Ratgeberliteratur hat der Sinologe Jonas Polfaß bereits 2015 gründlich analysiert und ist zu dem Schluß gekommen:
Die Einbeziehung mutmaßlich chinesischen Denkens dient hauptsächlich dazu, bereits bekannte Ratschläge auszuschmücken, zu verfeinern oder zusätzlich zu autorisieren. … In vielen Fällen kommt es im Internet sicher aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse zu Fehlübersetzungen; darüber hinaus werden freie Übersetzungen so oft frei übernommen, dass schließlich der Ursprung nicht mehr zu entziffern ist. … Anschließend wurden sie als Konfuzius-Worte so oft kopiert und zitiert, dass die Suchmaschinen im Internet sie mittlerweile als Lehren des chinesischen Meisters anerkennen — und die Fehlzuschreibungen mit jeder neuen Suchanfrage und Verlinkung reproduziert werden. Häufiges Zitieren sagt jedoch nichts über die Qualität des Inhaltes oder die Verlässlichkeit der Quelle aus.1
Der Bezug zu China, der sich in solchen „Pseudo-Zitaten“ ausdrückt, spiegelt nach seiner Auffassung das gestiegene Interesse an der aufstrebenden Wirtschafts- und Weltmacht China wider, doch überlieferten sie tradierte „Klischees und Ungenauigkeiten“ und es zeige sich darin „lediglich Halbwissen über das Reich der Mitte …, das die Leserschaft nicht kritisch reflektieren kann“ und das deshalb „bestenfalls unterhaltsamen“ Charakter besitze.2
Der Daoismus-Spezialist Russell Kirkland übte, bezogen auf sein Heimatland USA, noch schärfere Kritik. Er nannte solche „Pseudo-Übersetzungen von dummen Dilettanten“ eine
selbstverliebte amerikanische … Gefühlsduselei, die in betrügerischer Weise als Lehren eines Menschen aus einem anderen Land in ferner Vergangenheit vermarktet werden.3
In der Tat — darauf weisen Leser hin, die auf dieses Urteil reagiert haben — stammt die Tendenz, das westliche Publikum mit angeblichen „ostasiatischen Weisheiten“ zu erschlagen, aus dem Ende 19. Jh., als man in der spätromantischen (oder frühkapitalistischen) Sinnkrise des Westens (der Welt der „Moderne“) nach Erleuchtung aus dem Osten (der Welt der „Tradition“) zu suchen begann. Insofern besteht sicherlich ein Zusammenhang zwischen der Globalisierung und der Vereinnahmung östlicher Philosophien für die moderne Lebensgestaltung. Viktor Mair, der Kirklands Verdikt zitierte, brachte es auf den sinologischen Punkt:
Als Sinologe ärgert es mich sehr, wenn sich jemand scheinheilig auf einen falschen Orientalismus beruft, um seine Rede oder sein Schreiben zu verschönern.4
Das Stichwort Orientalismus erlaubt es uns zweifellos, das Phänomen in den gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskurs einzuordnen. Das Beispiel, das Mair selbst in seinem Blogeintrag als Orientalismus anführt,
ist, daß das chinesische „Zeichen/Symbol“ für „Krise“ aus „Gefahr“ und „Gelegenheit“ besteht.
Er meint damit 危機 (chin. weiji, auf japanisch kiki gelesen), was schlicht einen „gefährlichen Moment“ bedeutet, aber landläufig mißverstanden wird, weil das Zeichen 機 eben auch in dem Wort 機会 (chin. jihui, jap. kikai) erscheint, das „[günstige] Gelegenheit“ bedeutet. Seit John F. Kennedy 1959 und 1960 in Wahlkampfreden behauptete, das chinesische Wort für „Krise“ enthalte die Schriftzeichen für „Gefahr“ und „Chance“, ist dies zu einem Gemeinplatz (neudeutsch Meme) für Politiker und Wirtschaftsvertreter aller Herren und Länder geworden. Nur wird dies durch ständige Behauptung nicht wahrer. Aber wir wissen, daß Orientalismus nicht nur auf den Phantasien „westlicher“ („weißer“) Autoren beruht, sondern daß sich „östliche“ Urheber ebenfalls munter und zum eigenen Vorteil an der Produktion und Verbreitung von „Klischees und Ungenauigkeiten“ beteiligen — sie machen sich dadurch für das westliche Publikum interessanter und autoritativer. Oder sie internalisieren diese Orientalismen, um sich nahtlos in die westliche Denk-Welt zu integrieren wie jener 38-jährige chinesische Unternehmer aus der Staddt Dongguan, der in einem Beitrag der japanischen Tageszeitung Asahi Shinbun genau mit diesen Worten zitiert wurde:
„Krise“ setzt sich aus zwei Worten zusammen: „Gefahr“ und „Chance“.5
Die Dialektik von „Krise und Chance“ gehörte übrigens zur ständigen Rhetorik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wenn die Wiener Zeitung hier richtig zitiert, spielte Chinas Premier Wen Jiabao 2008 bei einem Besuch Merkels in Beijing genau diese Orientalismus-Karte, um bei ihr gute Stimmung zu erzeugen:
Auch Premier Wen legt Wert auf die strategische Partnerschaft mit Deutschland — und betont, das chinesische Schriftzeichen für Krise und Chance sei ein und dasselbe.6
Merkel erwiderte daraufhin, die aktuelle Finanzkrise biete tatsächlich eine Chance zum Aufbau einer internationalen Ordnung unter Beteiligung Chinas.
Es funktioniert also offensichtlich tatsächlich, durch bloße Wiederholung einer falschen orientalistischen Behauptung die Welt zu verändern. Gute Chancen also für mein eigenes geniales Konfuzius-Zitat, ähnliche Wirkung zu entfalten. Bitte sprechen Sie mir deshalb nach:
Auch aus kleinen Steinen kann man große Funken schlagen.
(Konfuzius)
1Polfuß, Jonas: Konfuzius rät? Deusche Ratgeberliteratur mit altchinesischen Weisheiten. In: Interculture journal: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien 14:25 (2015), 49–74, hier S. 65.
2Ebd. S. 66.
3Zitiert von Viktor Mair: False Quotations and Fake Translations. Language Log, 30.10.2010
4Ebd.
5『危機』は『危険』と『機会』の2字から成っている」. In asahi.com(朝日新聞社):世界を襲った「危機の連鎖」 逃げ場なき「究極の嵐」. 31.12.2008. Der Original-Link existiert nicht mehr, das Zitat findet sich aber bei hier.
6Finanzkrise: Merkel trotz Differenzen für mehr Zusammenarbeit mit China. Wiener Zeitung, 23.10.20086>
Beitragsbild: Schon 1926 beschrieb Itō Chūta, wie West und Ost auf der Suche nach dem Glück aneinander vorbei laufen. „Osten: ‚Es gibt einen Schatz im Westen, laßt ihn uns finden‘, USA und Europa: ‚Es gibt einen alten Schatz im Osten. Laßt ihn uns heben.'“