Der japanische Architekt Itō Chūta zeichnete in seinem Bild-Tagebuch unter dem Datum vom 15.8.1919 folgendes Bild mit dem Titel „Wie Ausländer unsere Fahrgäste 2. Klasse sehen“.
Wer das mit den strengen Sitten in heutigen japanischen öffentlichen Verkehrsmitteln vergleicht, wird schockiert sein. Andererseits: Wer weiß, wie es vielerorts in deutschen Eisenbahnen heutzutage zugeht, wird wohl eher mit den Achseln zucken.
Alice Schalek, die Japan 1923 bereiste,1 hatte ebenfalls keinen guten Eindruck von Japans öffentlichem Personennahverkehr und verband dies mit einer Kritik an der mangelnden Individualität, die sie festzustellen glaubte:

Eine wirkliche Folter ist die Elektrische, in die um die Hälfte mehr Menschen hineingepfercht werden, als Plätze vorhanden sind. Hie und da wird ein kleines Kindchen totgedrückt; daß es nicht täglich geschieht, ist nur ein Wunder. Mindestens jede dritte Frau hat eines auf dem Rücken, denn die Japanerinnen tragen die Sprößlinge bis zum zweiten Lebensjahre huckepack. (…) In der Elektrischen bilden die meist auch noch schwangeren Mütter mit dem Riesenbündel auf dem Rücken nicht nur beim Ein- und Aussteigen, sondern auch beim Sitzen ein Verkehrshindernis, weil das Bündel die Bankbreite einnimmt und die Trägerin halb in den Mittelgang hineindrängt. Schieben sich diese armen Weiber durch die Massen, so schwenken sie das Kind auf ihre Schulter und klopfen es, wenn es schreit, von der Seite — oft können sie es nicht zum Schweigen bringen — aber nie sieht man jemanden ihnen ausweichen oder ihrethalben aufstehen. (…) Stehe ich für solch eine geplagte Mutter auf, so treffen mich Blicke, als ereigne sich Unerhörtes. Für Frauen kennt man hierzulande keine Rücksicht, im Gegenteil, die kleinen Schulbuben drängen sich eidechsenartig zwischen der zusammengepferchten Menge durch, um einer schwerbeweglichen Frau einen leergewordenen Sitz wegzuschnappen. Diese Buben pfeifen in der Straßenbahn und benehmen sich überhaupt recht ungebunden, man merkt es ihnen an, daß sie die verwöhnten Herrchen des Hauses sind, oft die ganze Familie tyrannisieren. (…)
Bei allen Kreuzungen obliegt es dem Schaffner, die Kontaktbogen zu der andern Leitung hinüberzuziehen; die Fahrgäste müssen sich meist zu dem Vielbeschäftigten hindrängen, um eine Karte zu lösen. Dies beansprucht übermäßig viel Zeit, weil er Ausgangspunkt, Umsteigstelle und Ziel einzulochen hat, außerdem soll die Karte beim Aussteigen vom Wagenführer oder vom Schaffner zerrissen werden, lauter Aufenthalte, die jede Fahrt über die schlimmste Berechnung hinaus verlängern. Deshalb kommen alle Japaner überallhin zu spät. (…) Trotzdem wird hier nach Herzenslust schwarzgefahren. Wenn des Morgens die Wagen so voll sind, daß oft vier, fünf vorübersausen, ohne zu halten, entwischen Dutzende von Fahrgästen bei den Übersetzungen, insbesondere diejenigen, die sich an die Trittbretter klammern … In den neuen, geschlossenen Wagen, bei deren einzigem Mittelausgang beständig ein Schaffner steht, wird das Schwarzfahren wohl verhindert, da aber das Nachrücken ganz und gar nicht Sache der Japaner ist, die niemals ausweichen oder Platz machen (ihr Höflichkeitskodex aus der Zeit der Samurai enthält natürlich keinerlei Vorschriften über das Benehmen in der Elektrischen), so stauen sich an beiden Seiten die zuletzt Eingestiegenen und an vielen Haltestellen kann niemand hinzusteigen, während es im Inneren leer ist. Wer schon nach kurzer Fahrt wieder aussteigen will, muß sich mit Lebensgefahr hindurchquetschen …
Über diese heillosen Zustände wird aber nur vom Ausländer geschimpft, niemals hört man eine Klage vom Japaner, der ein viel zu sehr gedrilltes, schweigendes Objekt seiner Verwaltung ist. Der Japaner stellt nichts Persönliches vor, kein Ich, er ist nur Teil einer Masse, die nach dem Belieben der Polizei geschoben oder gebremst wird. Die lautlose Ergebung des Publikums ist oft geradezu erschütternd. Der Japaner ist so gewohnt zu dulden, daß er sicherlich auch die augenblicklichen Leiden durch das Erdbeben klaglos hingenommen hat. Und nirgends kann man dieses Volk so kennen lernen wie in der Straßenbahn …


1Vgl. Hosung Lee: „Geschichtsschreibung und Asian German Studies. Deutschsprachige Reiseberichte über Korea und die Mandschurei als hybride Orte in den 1920er Jahren.“ In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 51:1, Bern 2019, S. 147–164.