Ein Gedicht auf den Schnellzug Shinkansen 新幹線? Warum nicht — schließlich haben schon Detlev von Liliencron („Der Blitzzug“, 1903) und Theodor Fontane („Die Brück‘ am Tay“, 1880) berühmt gewordene Gedichte auf schnelle Züge verfaßt.

Die Reihe fortgesetzt hat, wie ich jetzt erst bemerke, Hilde Domin — ihr Gedicht heißt „Tokaidoexpress“ und stammt aus dem Jahr 1964. Das war das Jahr der Olympischen Spiele in Tokyo; der regelmäßige Betrieb des Tokaido-Shinkansen begann am 1.10. desselben Jahres. Nun also Domin:

Hilde Domin:

Tokaidoexpress

Wie ein Tokaidoexpress
sind wir durch die Geschichte gefahren
und kaum noch zu sehen
Ich rede in der Vergangenheitsform
während ich atme sehe ich mir nach
ich bin das Rücklicht
Als Rücklicht
leuchte ich vor euch her
euch Dichtern eines vielleicht zweifachen Zuhauses
des Bodens auf dem ihr bleiben dürft
Euer Land wird immer grösser werden
wenn die Erdoberfläche sich zusammenzieht
und die Grenzen zurückweichen
unter den Flügeln der Menschen
Ihr könntet gehen und doch bleiben
und im Worte wohnen
Vielleicht im Worte vieler Sprachen zugleich
aber im deutschen zuerst
Im deutschen
an dem wir uns festhielten
Ich der letzte
kämpfe für euch alle um den Stempel in diesem Pass
um unseren Wohnsitz im deutschen Wort

Wie man sieht: Der Zug wird ihr Metapher für die beschleunigte, hastige, grenzüberschreitende Fortbewegung durch die Geschichte. Mit der Gefahr, die Verwurzelung „im deutschen Wort“ zu verlieren. Als eine Schriftstellerin, die zur Nazi-Zeit emigrieren mußte, wird Domin selbst erfahren haben, wie wichtig der „Wohnsitz“ in einer eigenen Sprache ist — trotz aller Freiheit und Weite, die dem modernen Menschen offensteht. Die Geschichte, durch die ihr Leben gerast ist wie im Shinkansen, zwang sie zur Emigration und zur Suche nach neuen Sprachen — aber ihre Heimat in der deutschen Sprache wollte sie nicht aufgeben.

Wir Heutigen müssen ja nicht emigrieren. An einer eigenen Sprache festhalten sollten wir aber schon. Selbst wenn wir „im Worte vieler Sprachen zugleich“ bewandert sind.