Am 1. September 2023 jährt sich das Große Kantō-Erdbeben zum 100. Mal. Neben den 140.000 Opfern, die das Beben und die anschließenden Brände und Tsunamis forderten, starben in den Septembertagen von 1923 auch Tausende von Menschen durch Menschenhand: Sie wurden ermordet, weil sie Koreaner waren oder weil man sie für Koreaner hielt. Denn mit Billigung der Polizei machten Bürgerwehren Jagd auf Sozialisten und Koreaner, denen man unterstellte, Brunnen zu vergiften, Frauen zu vergewaltigen und einen gewaltsamen Umsturz zu planen. All dies waren haltlose Gerüchte. Doch zwischen 2.000 und 6.000 Menschen wurden grausam getötet. All dies ist bekannt; ein Bericht des regierungsamtlichen nationalen Rates für Katastrophenschutz kam 2017 zu dem Urteil, daß „jeder sehen konnte, wie Koreaner getötet wurden“. Ein japanischer Augenzeuge formulierte 1926, das Morden habe „mit dem Sehen von oben“ stattgefunden. Deshalb wurde es lange Zeit offiziell ignoriert oder gar geleugnet. Noch jetzt wird nicht gern darüber gesprochen, was im Schatten der Naturkatastrophe angerichtet wurde. Das Bild und Selbstbild Japans soll nicht befleckt werden.
Für den 1. September ist nun ein Spielfilm angekündigt, der dies ändern soll: Fukudamura Jiken („Der Fukuda-Zwischenfall“). Regisseur Mori Tatsuya 森達也 ist bisher für Dokumentarfilme bekannt; darunter zwei Filme über die mörderische Aum-Sekte (A und A2) und ein Film über das Große Tōhoku-Erdbeben von 2011 (311). Doch jetzt handelt es sich um einen Spielfilm.


Der Film greift den Massenmord an einer Gruppe von Hausierern auf, die im September 1923 im Dorf Fukuda in der Präfektur Chiba als Koreaner verdächtigt und gelyncht wurden; darunter Frauen und Kinder. Es handelt sich um einen jener wenigen Fälle während des Pogroms, die auch gerichtlich geahndet wurden (ein paar Täter erhielten kurze Gefängnisstrafen).
Doch waren die Opfer eben keine Koreaner, sondern Japaner. Ihr Dialekt — sie stammten von der Insel Shikoku — machte sie den Einheimischen verdächtig; dies reichte dem Pöbel, um sie zu ermorden. Dies ist ganz gewiß tragisch und verdient erinnert zu werden.
Doch der Blogger Vergil2010 erinnert zu recht daran, daß die Masse der Gewaltopfer eben keine Japaner waren, sondern Koreaner. Auch viele der Morde an ihnen sind gut dokumentiert. Aber einen Film darüber gibt es bis heute nicht. Vergil2010 fragt:

Könnte es nicht sein, daß der Vorfall im Dorf Fukuda verfilmt wurde, weil letztendlich Japaner getötet wurden, und daß dies der einzige Grund war, warum es überhaupt zu einer Verfilmung kam, trotz all dieser anderen Massaker?
Wann wird es in Japan wohl möglich sein, einen Film zu drehen, der direkt das Massaker an Koreanern als solches darstellt?

Eine Frage, die sich in diesen Tagen tatsächlich schmerzhaft stellt. Ich habe in Japan bisher keine Ausstellung gesehen, die den Mut hatte, das Gedenken an das Erdbeben und seine Opfer mit dem Gedenken an die Opfer menschlichen Versagens nach dem Beben zu verknüpfen.

Beitragsbild: Itō Chūta: Jikeidan to Senjin. 21.10.1923