Am 3. März 2023 ist, wie erst jetzt bekannt wurde, der japanische Schriftsteller Ōe Kenzaburō im Alter von 88 Jahren an Altersschwäche gestorben. Schon als Student fand er Aufmerksamkeit, 1958 erhielt er den renommierten Akutagawa-Literaturpreis. Den Höhepunkt seiner Anerkennung erreichte er 1994, als ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Da war er schon mit Günter Grass, ebenfalls Nobelpreisträger, befreundet. Ōe besuchte Grass in Deutschland, Grass reiste mit ihm durch Japan. Beide teilten die Leidenschaft zum gesellschaftspolitischen Engagement. Die Geburt seines geistig behinderten Sohnes 1963 verarbeitete Ōe in seinem Roman „Eine persönliche Erfahrung“, der sich mit der Nichtakzeptanz behinderter Menschen in Japan auseinandersetzt. Seine „Aufzeichnungen aus Hiroshima“ (1965) waren ein politisches Statement, die „Aufzeichnungen aus Okinawa“ (1970) stellten eine Abrechnung mit der Militärdiktatur im Zweiten Weltkrieg dar; Ōes kritische Äußerungen über die schändliche Rolle des Militärs bei den Massenselbsttötungen am Ende des Krieges brachten ihm ein Gerichtsverfahren ein, das er aber in sämtlichen Instanzen gewann. Er bekannte sich als Gegner sowohl des „Atomwaffen-Nationalismus“ als auch des „Atombombenopfer-Nationalismus“. Er war zutiefst geprägt von einem pazifistischen Humanismus.
Seine Besuche in Deutschland führten ihn übrigens 1999 auch nach Berlin, wo er während seiner Gastprofessur an der Freien Universität auch an der japanischen Schule und Ergänzungsschule auftrat. Die Kinder (darunter meine eigene Tochter) durften ihm damals selbstverfaßte Aufsätze vorlegen. Ōe nahm sich die Zeit, jeden einzelnen durchzulesen und eigenhändig Anmerkungen zu verfassen. Das Einfühlungsvermögen, das Ōe dabei bewies, hat mich bewegt und mir gezeigt, daß er jeden ernst nahm, der die Sache der Literatur ernst nahm. Die Nachricht von seinem Tod überbrachte uns heute morgen genau diese Tochter. Ich ahne, daß sie damals genauso beeindruckt war von diesem vorbildlichen Ernst.
Die Erlebnisse in Berlin hat Ōe übrigens auch literarisch verarbeitet, nämlich in dem Roman Torikaeko (2000), deutsch als Tagame Berlin-Tokyo veröffentlicht. Darin geht es um den Suizid eines Regisseurs, in dem unschwer der Schwager Ōes zu erkennen ist, der legendäre Itami Jūzō, der sich 1997 das Leben nahm. Wie so häufig bei Ōe, spielt auch hier die Auseinandersetzung mit Sexualität und sexuellen Orientierungen eine wichtige Rolle. Noch wichtiger ist jedoch, daß der Held in diesem Buch den Namen Kogito 古義人 trägt. Für Japan wäre dies ein ausgesprochen ungewöhnlicher Name. Auf lateinisch aber bedeutet cogito bekanntlich „ich denke“, wie in dem berühmten Motto von Descartes: Cogito, ergo sum. „Ich denke, also bin ich.“ Das war ganz sicher eine Grundüberzeugung des Intellektuellen Ōe Kenzaburō. Seine Gedanken werden in Japan fehlen, aber sie werden auch in Deutschland fehlen.
Ich berichte nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind und wenn Sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die Deutsche Depressionshilfe ist wochentags unter 0800-3344533 zu erreichen.