Nicht alle Japaner sind kaltblütig, wenn die Erde bebt. Für etliche war das, was sie am 11.3. erlebt haben, grenzwertig. Ganz abgesehen von jenen, die um ihr Leben laufen mußten — und von jenen, die den Wettlauf verloren haben.
Als die erste Flutwelle das Land erreichte, waren die Beobachtungshubschrauber schon in der Luft. Unten kämpften Menschen darum, vor der reißenden Wucht der Woge, die immer mehr statt aus Wasser aus Trümmern von Häusern, Schiffwracks und Autoschrott bestand, zu fliehen — Staus entstanden, Umwege waren versperrt. Fassungslos sahen wir vor dem Fernseher zu. Pietätvoll schwenkte die Kamera in eine andere Richtung, wenn der Tod allzu deutlich sich einem der Fliehenden näherte.
Und wir, in relativer Sicherheit, zählten die zerbrochenen Glasscheiben, rückten die Regale zurecht, lasen die Bücher vom Fußboden auf. Und prüften, ob in der Nähe noch alle Lichtmasten standen und alle steinernen Mauern.
Eine stand nicht mehr. Sie war glatt umgekippt. Das sah ich, als ich meine Tochter aus der Schule abholte. Die Kinder hatten sich — genau wie zuvor so oft geübt — auf dem Schulhof versammelt, klassenweise, umringt von den Lehrern, die Liste führten und darauf warteten, daß die Erziehungsberechtigten kämen. Meine Kleine kauerte auf dem Hof, tröstete eine Freundin, die in Tränen ausgebrochen war. Nein, sie habe nicht geweint. Sie habe den anderen gesagt, das Schlimmste sei nun vorüber.
Ruhig Blut bewahren. Das ist das Wichtigste. Und daran denken, was folgen kann.
Im Supermarkt standen alle Flaschen wohlgeordnet in Körben vor den Regalen. Andernorts war ein Albtraum wahr geworden: Berstende Flaschen, die aus ihren Fächern auf die Kunden stürzen …
Bemerkenswerte Professionalität selbst in Kleinigkeiten. Die Fernsehkommentatoren sprechen ruhig, sachlich, nüchtern über die erregenden Bilder. Feuerwehr, Polizei, Hilfsdienste — sie sind sofort auf dem Posten. Das Gas wird sogleich ausgeschaltet und kehrt von selbst, sobald die Lage geklärt ist, wieder zurück. Nun, gegen Mitternacht, fahren sogar die Züge wieder, um die in der Innenstadt Gestrandeten zu ihren Familien zurückzubringen.
Doch die Erde bebt weiter. In den ersten acht Stunden gibt es rund 90 Nachbeben. Das kann sich noch über Wochen fortsetzen. Abstellen läßt es sich nicht.
Bei uns gab es zum Abendessen „roten“ Reis. Also weißen Reis mit roten Azukibohnen. Wie bei einer Familienfeier. Man feiert das Überleben.
Gute Nacht, Tokyo. Und Friede jenen, die trauern.