Es klingt vielleicht auf den ersten Blick schräg, zwei so völlig unterschiedlich erscheinende Filme wie Barbie (USA 2023, Regie: Greta Gerwig) und Aya und die Hexe (Āya to Majo アーヤと魔女, Japan 2020, Regie: Miyazaki Gorō) als double feature im Heimkino anzusehen. Barbie ist zu einem weltweiten Kassenschlager geworden und wird weithin als geniale Persiflage sowohl auf oberflächlichen Konsum-Kapitalismus als auch auf den Mainstream-Feminismus angesehen — also jedenfalls als relevant. Wobei die Frage offenbleibt, ob es den Höhepunkt von Relevanz und Systemkritik darstellt, wenn die „stereotypische Barbie“ ganz am Ende sich auf ihren ersten Termin beim Gynäkologen freut.
Aya und die Hexe nimmt dagegen eine ganz andere Perspektive auf weibliches empowerment, wie man es neumodisch heuten nennt, ein. Der Film folgt ziemlich getreu seiner literarischen Vorlage, der Novelle Earwig and the Witch von Diana Wynne Jones (1934–2011). Jones ist Ghibli-Kennern natürlich als Autorin von Howl’s Moving Castle (1986) bekannt, und sie hat auch in ihren übrigen, jugendfreundlichen Werken sehr gern Magie und Zauberei aufgegriffen, darin ihrer inzwischen viel bekannteren britischen Landsmännin J. K. Rowling nicht unähnlich. Weder Rowling noch Jones gelten als Repräsentantinnen des aktivistischen Feminismus, aber im Gegensatz zu Harry Potter sind die Hauptfiguren von Jones häufig starke Mädchen und junge Frauen, die auch ohne ideologische Programmierung sehr energisch ihren Platz im Leben suchen und behaupten. Dies paßt thematisch sehr genau zur filmischen Tradition des Studio Ghibli.
Die Heldin in Aya und die Hexe ist ein Mädchen, das in einem Waisenheim aufwächst, nachdem es von einer Hexe mit roten Haaren dort nächtens abgelegt wurde. Sie heißt im Original Earwig („Ohrwurm“), was so merkwürdig ist, daß es von der Heimleiterin potentiellen Adoptiveltern als „Erica Wig“ vorgestellt wird. Im Ghibli-Film heißt sie allerdings ganz anders, und dies ist programmatisch: Ayatsuru, abgekürzt Āya. Ayatsuru bedeutet auf japanisch „manipulieren“ (so, wie man eine Marionette an Fäden bewegt), und genau dies ist das wichtigste Talent des Mädchens: Sie beherrscht die Kunst, andere Menschen dazu zu bewegen, genau das zu tun, was sie will. So wird sie rasch Anführerin der übrigen Waisenkinder, besonders ihres kleinen Freundes Custard, der ihr keinen Wunsch abschlagen kann; aber auch das Personal des Waisenhauses, vom Koch bis zur gutherzigen Heimleiterin, tanzt nach ihrer Pfeife. Ganz wesentlich ist, daß dies alle sehr gern tun und daß Aya ihre Macht nie mißbraucht: Sie tut niemand damit weh, sie tut nichts Böses, und deshalb ist sie bei allen überaus beliebt. Sie genießt ihr Leben und findet nichts langweiliger als die Vorstellung, von einer „normalen“ Familie adoptiert zu werden, wo sie dann nur über drei bis sechs Personen herrschen könnte.
Aber eines Tages wird sie doch adoptiert; von einer Frau mit blaugefärbten Haaren und einem enormen roten Hut, begleitet von einem funkensprühenden, merkwürdig großgewachsenen Mann mit hornähnlichen Ohren. Schnell stellt sich heraus, daß diese Frau namens Bella Yaga eine Hexe ist, die magische Tränke mixt (darunter äußerst praktische wie den „Zauberspruch, um einen Bus kommen zu lassen“) und sie an Hausfrauen ihrer Umgebung mit großem Erfolg verkauft. Sie benötigt dafür eine Assistentin oder, aus der Sicht von Aya, eine Sklavin, die ihr zur Hand geht. Aya mischt mit, weil die Hexe ihr verspricht, sie dafür in Magie zu unterrichten. Sie hält dieses Versprechen jedoch nicht, weshalb Aya zunehmend frustriert ist und danach trachtet, ihren Partner, den hochgewachsenen Mandrake, auf ihre Seite zu ziehen. Dieser ist ein ziemlich erfolgloser Schriftsteller; Aya findet seine Bücher langweilig, aber sie entdeckt, daß er erstens auch ein passionierter Rockmusiker ist (er spielt heimlich Keyboard) und zweitens über zwei drohnenartige Dämonen gebietet, die ihm alle Wünsche (jedenfalls die nach Essen) erfüllen können. Trotz seiner rauhen Schale (Bella Yaga fürchtet sich vor ihm genauso wie der häufig von ihr gepiesackte Hauskater Thomas, der sprechen kann und Ayas hilfreicher Freund wird) ist er in Aya vernarrt und gerät allmählich unter ihre Kontrolle. Am Ende hat Aya erreicht, was sie wollte: Sie wird verwöhnt und umsorgt und genießt das Leben in ihrer magischen Kleinfamilie. Sie bringt sogar den ängstlichen Custard dazu, sie zu besuchen. Es ist Weihnachten, Custard klingelt, ein Geschenk für Aya in der Hand, an der Tür — und hinter ihm steht, welch Weihnachtswunder, Ayas Mutter, die rothaarige Hexe. Hier schließt sich der Kreis: Mandrake, Bella Yaga und Ayas Mutter gehörten früher zur selben Rockband (Bella Yaga war Schlagzeugerin, Ayas Mutter Sängerin), und ohne daß es weiter expliziert wird, dürfen wir vermuten, daß Mandrake tatsächlich Ayas Vater ist. Daß ein Kind aus einer solchen Familie dann auch über die magische Fähigkeit verfügt, andere Menschen geschickt zu manipulieren, verwundert dann überhaupt nicht mehr.
Kurz: In keiner Sekunde ihres Lebens ist Aya wie Barbie. Sie besitzt einen eigenen, klaren Willen; sie ist durchsetzungsstark, aber dabei stets sozial: Gute menschliche Beziehungen, das weiß sie, sind der Schlüssel zu einem guten Leben. Und so gelingt es ihr, selbst schräge und kaputte Typen zu besseren Menschen zu machen. Mandrake wird dank ihrer Hilfe zu einem gefeierten Schriftsteller; Bella Yaga entdeckt beim Mischen von Zaubertränken ihr Talent als Schlagzeugerin wieder und wird ein freundlicher Mensch; Custard überwindet seine Ängste; und Ayas Mutter kehrt zurück zu ihrem Kind und ihren alten Freunden.
Es ist ein Mutmach-Film ohne verkrampfte ideologische Belehrungen; auch Gynäkologen spielen hier keine Rolle. Inhaltlich also genau das Richtige für einen Ghibli-Film. Was deutlich anders ist, ist einmal die Musik — Rockmusik ist in früheren Filmen noch nicht vorgekommen; aber das ist kein Manko: Die Country-Sängerin Kacey Musgraves singt den Thema-Song „Don’t Disturb Me“ sehr überzeugend. Wirklich neu ist die Animationstechnik: Zum ersten Mal hat Ghibli einen Film in 3-D-Computeranimation produziert. Nur die sehr schön gezeichneten Hintergründe erinnern an die altgewohnte Ghibli-Ästhetik, sonst sieht der Film ziemlich so aus, als wäre er bei Pixar entstanden.
Dies mag erklären, warum Aya und die Hexe vor allem in den USA schlechte Kritiken erhalten hat. Viele Ghibli-Fans sprechen von einer „Enttäuschung“ und dem „schlechtesten Film“, der je von Ghibli produziert worden sei. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Mir fallen sowohl technisch als auch inhaltlich deutlich schlechtere Filme ein (Ged oder Neko no Ongaeshi in erster Linie). Wer weiß, wie aufwendig und teuer die traditionelle Produktion mit Cels gewesen ist, kann sich nicht darüber wundern, daß Ghibli hier auch einmal einen anderen Weg gegangen ist. Schließlich war auch Takahata Isaos letzter Film Kaguyahime mit dem Computer produziert — fraglos technisch unübertrefflich perfekt gemacht, wenn auch in 2-D, aber über einen so langen Zeitraum, daß sich eine Wiederholung aus Kostengründen verboten hätte. Wer, wie auch oft zu lesen ist, bemängelt, die Story bleibe „offen“ oder die menschlichen Beziehungen darin seien „toxisch“, hat ganz offensichtlich die Handlung und die darin enthaltenen Entwicklungen nicht verstanden. Es geht hier anders als bei Barbie eben nicht um die Entwicklung des Hauptcharakters, sondern um die von Aya ausgehende transformative Energie: Sie entwickelt ihre Umwelt und macht die Welt zu einer besseren Welt. Kann man das von Barbie auch sagen? Ich glaube nicht.