Unter dem Titel „Wie wollt ihr leben?“ — 君たちはどう生きるか Kimitachi wa dō ikiru ka — veröffentlichte 1937 der Schriftsteller Yoshino Gensaburō 吉野源三郎 (1899–1981) einen Roman, dessen Hauptfigur ein 15-jähriger Mittelschüler ist, der im Schulleben allerlei Unschönes erlebt. Sein Onkel hilft ihm, sich dennoch zu einem den Menschen zugewandten, von Mitmenschlichkeit geprägten Weg zu entscheiden.
Für seinen voraussichtlich letzten Film, der heute, am 14.7.2023, in Japans Kinos Premiere hatte, hat Japans Meister-Regisseur Miyazaki Hayao 宮崎駿 (geb. 1941) sich für denselben Titel entschieden. Doch die Berührungspunkte mit Yoshinos Roman sind nur indirekt vorhanden. Das konnte aber vor Erscheinen des Publikums niemand außerhalb des Studio Ghibli wissen — denn es gab keinerlei Werbung für den Film, keine Vorankündigung außer dem Titel und einem Plakat. Selbst die Kinos tappten bis zum letzten Moment im Dunkeln, noch vor zwei Wochen war ihnen gar nicht klar, ob der Film überhaupt erscheinen würde. Bei der Aufführung selbst gab es, anders als sonst üblich, keine Handzettel, keine Accessoires, kein E-Konte — es war für die Besucher also wie ein Stochern in einer Blackbox.

Die Filmhandlung

Miyazaki hatte angedeutet, er werde in dem Film auch autobiographische Motive verwendet. Er hat sein Versprechen gehalten — in gewisser Weise, aber anders, als viele erwartet haben mögen.
Der Film beginnt mit der Bombardierung Tōkyōs im Zweiten Weltkrieg. Als genauer Zeitpunkt wird „das 3. Jahr des Krieges“ genannt; gemeint ist wohl: 1944, also 3 Jahre nach Pearl Harbor (was historisch mit dem Beginn der Luftangriffe übereinstimmt). Der Viertklässler Maki Mahito 牧真人 (ein sprechender Name: „Mahito“ bedeutet „der Aufrichtige“; der Familienname „Maki“ bedeutet „Schäfer“; also so etwas wie „der gute Hirte“) wird Zeuge, wie die gefürchteten amerikanischen Brandbomben (焼夷弾 shōidan) die Stadt in ein Meer aus Flammen verwandeln. Seine Mutter kommt dabei um. Dieses Erlebnis und der Verlust der Mutter verfolgen den Jungen in seinen späteren Träumen; man sieht ihn dabei auch weinen.
Nach diesem dramatischen Vorspann ist die Stimme Mahitos als Erzähler aus dem Off zu hören; somit wissen die Zuschauer schon, daß er die nun folgende Geschichte überleben wird.
Mit seinem Vater Shōichi zieht Mahito aufs Land. Dort besitzt die Familie seiner Mutter ein Anwesen. Sein Vater ist nun mit Natsuko, der jüngeren Schwester von Mahitos Mutter zusammen, die auch schon schwanger ist. (Wie dies zeitlich zusammenhängt, bleibt unklar. Offenbar ist seit dem Tod der Mutter bereits einige Zeit vergangen; sonst müßte man annehmen, daß sein Vater bereits zuvor ein Verhältnis mit Natsuko hatte.) Mahito tut sich mit der neuen Mutter und der neuen Umgebung jedoch schwer. Die Dienerschaft des Hauses besteht aus merkwürdigen Alten, die offenbar schon sehr lange im Dienst der Familie stehen. Sein Vater leitet im Ort eine Fabrik, die Cockpits für Militärflugzeuge herstellt, was eines der autobiografischen Elemente des Filmes darstellt: Auch Miyazakis Vater war an der Produktion von Kriegsflugzeugen beteiligt. Mahito soll unterdessen zur Schule gehen, fügt sich jedoch bereits nach dem ersten, im Streit mit seinen Mitschülern verlaufenen Schultag selbst mit einem Stein eine Kopfwunde zu und muß daraufhin ärztlich behandelt werden. Auf diese Weise erreicht er jedoch, von der Schule freigestellt zu werden, und gewinnt dadurch Zeit, sich mit einem rätselhaften Turm auf dem Grundstück des Anwesens zu beschäftigen, dessen Zugang verschüttet ist. Es heißt, der Turm sei von dem Urgroßvater seiner Mutter errichtet worden, der anschließend spurlos darin verschwunden sei. Ständig wird Mahito außerdem von einem Graureiher (im Japanischen wegen seines blauen Kopfgefieders 青鷺 aosagi, also „Blaureiher“ genannt) angegangen und sogar angegriffen, der sprechen zu können scheint. Jedenfalls verfolgt er Mahito noch in dessen Albträumen und behauptet: „Ich habe auf dich gewartet — deine Mutter lebt noch, komm mit!“ Daraufhin bastelt sich Mahito Pfeil und Bogen. In den Pfeil hat er eine Feder des Kranichs eingearbeitet; der Pfeil entwickelt sich dadurch zu seiner Überraschung zu einem halbaktiven Suchkopf. Doch bevor das große Abenteuer beginnt, findet Mahito auf seinem Schreibtisch ein Buch, das ihm seine Mutter schenken wollte: Eben jenes Kimitachi wa dō ikiru ka, von dem der Film seinen Titel hat. Er beginnt darin zu lesen. Da erfährt er, daß Natsuko verschwunden ist. Er begibt sich auf die Suche, begleitet von der alten, ziemlich mißmutigen Dienerin Kiriko. Sie folgen Natsukos Spuren bis zum plötzlich weit geöffneten Eingang zum geheimnisvollen Turm. Über dem Eingang steht als programmatisches Motto

fecemi la divina podestate, la somma sapienza e ’l primo amore.

Es handelt sich um ein berühmtes Zitat aus dem 3. Gesang von Dantes Göttlicher Komödie, in der Übersetzung von König Johann von Sachsen: „Die Allmacht hat der Gottheit mich gegründet, die höchste Weisheit und die erste Liebe.“
Im Turm wartet bereits der Graureiher auf Mahito und lockt ihn mit dem Versprechen, ihm seine Mutter zu zeigen. Doch das ist nur eine Täuschung. Es kommt zum Kampf, Mahito trifft den Vogel mit seinem Pfeil, und es stellt sich heraus, daß der Graureiher in Wirklichkeit ein anderes Wesen ist, das ich für eine Art Tengu 天狗 halte: Es kann fliegen, kämpfen und lügen und hat eine rote Nase — alles Eigenschaften, die für dieses Fabelwesen gelten. Eine rätselhafte Gestalt am oberen Ende des Turmes fordert den Tengu auf, Mahito zu Natsuko zu führen. Daraufhin versinken Mahito und Kiriko im Fußboden.
Mahito findet sich nun an einem unbekannten Strand wieder. Im Hintergrund zeigen sich Segelboote in der Abendsonne. Er entdeckt an Land ein riesiges Dolmengrab, vor dem ein goldenes Tor mit der Inschrift steht:

Wer von mir lernt, wird sterben. (Ware wo manabu mono wa shi su.)

Auch dies ist ein Zitat, diesmal von einem chinesischen Dichter namens Li Yong (674–747). Vollständig lautet es: „Wer mir ähnelt, ist gewöhnlich; wer von mir lernt, wird sterben.“ (似我者俗,学我者死) Was das Zitat hier bedeuten soll, wird im Film nicht klar. Aber natürlich läßt sich Mahito davon nicht abschrecken und öffnet das Tor; in diesem Moment greifen ihn Horden von wilden Pelikanen an. Eine kräftig gebaute Frau auf einem Segelboot rettet Mahito jedoch und besänftigt mit einer magischen Zeremonie den Herrn des Grabes (dessen Identität ungeklärt bleibt); sie fahren hinaus aufs Meer, angeln einen riesigen Fisch und kommen mit ihrer Beute an einer Insellandschaft an, wo sie von gruseligen schwarzen Männern und niedlichen weißen Geisterchen empfangen werden, die an die Kodama aus Miyazakis Sen to Chihiro erinnern. Allerdings wird es gleich wieder gefährlich, denn sowohl die Geister als auch die riesigen Papageien, die dort Dienst tun, haben Hunger und wollen nicht nur den Fisch, sondern auch die Menschen essen. Die Geisterchen steigen abends in den Nachthimmel auf, um als Menschen geboren zu werden. Die Pelikane greifen sie an, um sie zu fressen. Eine andere junge Frau mit magischen Kräften, Himi, rettet zunächst die Geisterchen und dann Mahito aus seiner brenzligen Situation. Sie führt Mahito in ihr Haus, wo sie ihn bewirtet. Es ist, wie Mahito bald ahnt, seine eigene Mutter. Auf sein Brot streicht sie eine Marmelade, auf deren Etikett TOMOR zu lesen ist — offenbar als Bruchstück von TOMORROW, also „morgen“. Vom Haus aus erreichen die beiden jenen geheimnisvollen Turm, von dem das Abenteuer seinen Anfang nahm. Sie zeigt Mahito einen Gang mit vielen Türen; die Tür mit der Nummer 132 kann ihn zurück in seine Gegenwart führen. Mahito öffnet die Tür, sieht auf der anderen Seite seinen Vater, der nach ihm sucht, beschließt aber, nicht ohne Natsuko zurückzukehren. Er findet sie mit Hilfe seiner Mutter. Sie liegt aufgebahrt in einer Gebärhütte (産屋 ubuya). Über ihr befinden sich Ringe mit zeremoniellen weißen Papierstreifen; auch Natsuko ist weiß gekleidet, wie es für Leichname üblich ist. Doch Natsuko lebt. Mahito ruft sie, wobei er zum ersten Mal akzepiert, daß sie seine neue Mutter ist (er nennt sie ab jetzt „Natsuko-Kāsan“). Doch die Papierstreifen und die Steine kämpfen gegen Mahito, weil er das Tabu (禁忌 kinki) verletzt hat, wonach Männer die Gebärhütte nicht betreten dürfen. Seine Mutter will Mahito und Natsuko ohne Erfolg befreien. Mahito durchschreitet einen gleißend hellen Tunnel und trifft auf einen alten Mann, der ihn als „Enkel“ (子孫 shison) anspricht; er ist der Urgroßvater von Mahitos Mutter. Er zeigt Mahito den Sternenhimmel und einen darin schwebenden riesigen Stein, der sein Lebenswerk sei. Es sei aber noch unvollendet.

Die Welt ist ein Lebewesen.

Der Alte möchte, daß Mahito sein Werk fortsetzt. Das könne laut Vertrag mit den Steinen nur jemand tun, der mit ihm verwandt ist. Mahito könne die Welt zu einem schöneren, friedlicheren Ort machen. Er müsse dafür nur jeden Tag den Turm aus steinernen Bauklötzen neu aufbauen. Doch Mahito widerspricht; die Steine, die ihm der Alte anbietet, seien böswillig und dasselbe wie Grabsteine. Unversehens findet sich Mahito nun an eine Steinsäule gefesselt wieder. Papageien wetzen Messer und bereiten ein Festmahl vor. Doch der Tengu-Reiher befreit ihn. Sie sehen, wie seine junge Mutter auf einer Bahre in den Turm getragen wird. Der Führer („Duch“) und König der Papageien betritt im Triumph den Turm und läßt sie zum Alten bringen. Mahito und der Tengu verfolgen ihn. Der Alte verspricht Mahitos Mutter, ihn und Natsuko wieder in ihre Welt zurückzulassen. Inzwischen erreichen Mahito und der Tengu den Alten, diesmal verfolgt vom König der Papageien. Noch einmal bitte der Alte Mahito, aus 13 weißen steinernen Bauklötzen seinen eigenen Weltenturm zu bauen, um eine reiche, friedliche und schöne Welt zu erschaffen. Doch Mahito lehnt ab; er habe selbst bösen Willen in sich und könne die Steine nicht berühren. Er wolle mit Natsuko in seine Welt zurückkehren. „Eine Welt voller Morden und Dummheit?“, fragt der Alte. „Ich werde dort Freunde finden“, entgegnet Mahito. Nun schleicht sich der König der Papageien an, zerstört den Bauklotz-Turm und setzt damit den Einsturz des gesamten Bauwerks in Gang. Inzwischen bringt Kiriko Natsuko herbei. Während Kiriko und Himi durch eine der numerierten Türen in die Vergangenheit zurückgehen, kehren Mahito und Natsuko durch Tür 132 in ihre gewohnte Welt zurück, wo sie bereits sehnlichst erwartet werden. Auch der Graureiher kommt mit ihnen. So findet Mahitos Familie wieder zusammen.
1947, zwei Jahre nach Kriegsende, ziehen Shōichi, Natsuko, Mahito und sein Halbgeschwisterchen nach Tōkyō zurück.

Kritisches Nachwort

Natürlich lohnt sich der Film. Es ist unverkennbar, daß er aus dem Hause Ghibli stammt. Die zeichnerische Gestaltung ist wie gewohnt eine perfekte Mischung aus traditionellen 2-D-Figuren mit wunderbaren Hintergrundbildern. Im Layout der menschlichen Charaktere gibt es keine Überraschungen; Mahito ähnelt Shō aus Arietty. Mahitos Stimme ist für einen Zehnjährigen allerdings ziemlich tief, was nicht verwundern kann, denn gesprochen wird er vom 18-jährigen Schauspieler Santoki Sōma 山時聡真. Die weiblichen Gestalten, deren Persönlichkeiten für einen Miyazaki-Film erstaunlich blaß bleiben, kommen (bis auf Kiriko) auch vertraut vor. Der Vater Shōichi (gesprochen vom Popsänger Kimura Takuya 木村拓哉) ist größer und männlicher als gewöhnlich, spielt aber nur eine Nebenrolle. Die Musik von Hisaishi Jō 久石譲 (von ihm selbst auf dem Klavier vorgetragen) erinnert stellenweise stark an die Filmmusik zu Takahata Isaos Kaguyahime — auch kein Wunder, denn sie stammt auch von Hisaishi. Der Themasong Chikyūgi („Globus“) wurde allerdings von Yonezu Kenshi 米津玄師 (geb. 1991) geschrieben. All dies ist höchst professionell.
Wie in dem Dante-Zitat angedeutet, sind also göttliche (Schöpfer-)Macht, Weisheit und (kindliche) Liebe die Themen dieses Filmes, und alle drei bilden ganz sicher den Stoff für einen guten Anime.
Wenn ich trotzdem mit gemischten Gefühlen aus diesem Film gegangen bin, dann wohl, weil er auch meine Erwartungen letztlich nicht erfüllt hat. Er ist weder eine Verfilmung des durchaus lesenswerten gleichnamigen Romans noch eine Schlüsselgeschichte zur Biografie seines Regisseurs. Und auch die Danteschen Motive von Schöpfermacht, Weisheit und Liebe schöpft der Film nicht wirklich aus. Viele der hier auftretenden Motive kennt man als Ghibli-Fan bereits aus anderen Filmen Miyazakis: Die Suche nach der Mutter, wenngleich hier vermischt mit der Suche nach der Stiefmutter, natürlich aus Totoro. Die Suche nach der Familiengeschichte natürlich aus Marnie. Die Suche nach dem Schlüssel zur Rettung der Welt (mit unvermeidlichem Scheitern) aus Laputa. Den Kampf gegen Gier und Krieg aus Mononokehime und Sen to Chihiro. Das Leiden am Krieg aus Kaze tachinu oder Howl. Die Macht der unschuldigen Liebe aus Ponyo. Und die besten Filme Miyazakis zeichnen sich durch einen heilsamen Humor und eine tiefe Menschlichkeit aus, die wie in Kurenai no buta sogar völlig ohne Geister und Magie auskommen können. In Kimitachi wa dō ikiru ka blitzt von dem allen immer wieder etwas auf. Aber wer dieses Etwas bereits kennt, wird sich fast schmerzlich daran erinnern, daß es in diesen anderen Meisterwerken schon vorgekommen ist, raffinierter auch; in Geschichten, die leichter zu verstehen, leichter nachzuerzählen sind und länger nachwirken, als es in diesem wohl letzten Film Miyazakis der Fall ist. Ein schöner Film ganz sicher also. Ein Ghibli-Film für Anfänger sozusagen. Schade eben nur, daß er am Ende eines großartigen Schaffensweges steht.