Während eines Interviews mit dem französischen Fernsehsender LCI über den Ukraine-Krieg hat der Botschafter der Volksrepublik China in Frankreich, der als diplomatischer „Falke“ bekannte Lu Shaye 盧沙野, am 20.4.2023 die Souveränität der aus der UdSSR ausgeschiedenen Staaten in Abrede gestellt. Wörtlich sagte er:

Selbst die Länder der ehemaligen Sowjetunion haben keinen effektiven Status im Völkerrecht, weil es kein internationales Abkommen gibt, das ihren Status als souveränes Land konkretisiert.[1]

Nun ist die Frage, ob die UdSSR 1991 ersatzlos unterging und in ihre Einzelteile zerfiel („dismembriert“ wurde) oder ob die ihr angehörigen Gliedstaaten aus ihr ausgeschieden sind (die baltischen Staaten hatten schon vorher ihren Austritt erklärt), in der Tat umstritten. Aber genauso umstritten ist, in welchem Sinne Rußland als Nachfolgestaat der UdSSR betrachtet werden kann (faktisch sicherlich, aber juristisch ist dies unklar) — was natürlich auch Konsequenzen für den völkerrechtlichen Status von Ukraine und Krim-Halbinsel hat. Aber mich interessieren die Folgen, die Lus Behauptung außer für die Ukraine (1918 unabhängig, 1920 sowjetisch besetzt), für die drei baltischen Staaten (1918 unabhängig, 1940 sowjetisch besetzt), Georgien und Armenien (beide seit 1918 unabhängige Republiken, seit 1921 sowjetisch besetzt) hat. Und für Taiwan.
Denn auch bezüglich der Insel Taiwan gibt es „kein internationales Abkommen“, das ihre Zugehörigkeit zur Volksrepublik China konkretisieren würde. Das Völkerrecht ist eine zweischneidige Waffe …


1„Même les pays ex-union Soviétique, ils n’ont pas le statut effectif dans le droit international parce qu’il n’y a pas d’accord international pour concrétiser leur statut d’un pay souverain.“

Beitragsbild: Flagge der Republik China = Taiwan über dem Hauptquartier der Nationalistischen Partei Chinas für Australasien in Sydney.