Der türkische Journalist Bülent Mumay berichtet in seiner wöchentlichen Kolumne in der FAZ, bislang habe in der Türkei nach den verheerenden Erdbeben seit dem 6. Februar 2023 noch keiner der auf staatlicher Seite Verantwortlichen die Schuld für nachlässige oder nicht eingehaltene Bauvorschriften auf sich genommen, die ein Grund für die hohe Zahl der Toten und Verletzten gewesen seien. Mumay fährt fort:
Es gibt nur eine einzige Person, die sich in den letzten 21 Jahren in diesem Land je zu ihrer Verantwortung bekannte. Und das war kein Türke, sondern ein Japaner.
Der Vorfall, auf den Mumay sich bezieht, liegt fast genau acht Jahre zurück. Am 21. März 2015 nahm sich ein japanischer Ingenieur namens Kishi Ryōichi, der am Bau einer Brücke zwischen Izmit und Yalova beteiligt war, das Leben, um die Verantwortung für ein gerissenes Seil dieser Brücke zu übernehmen. Diese drei Kilometer lange Brücke wird als die längste Hängebrücke der Welt bezeichnet. Sie verbindet Europa und Asien und die beiden Industriezentren Istanbul und Izmir. Einige Tagen zuvor hatte man Risse im lokal hergestellten Verbindungsstück gefunden, die zum Bruch des Seils führten, das einen Laufsteg für die Bauarbeiter trug. Deshalb ließ Kishi die Bauarbeiten wegen eines angekündigten Sturms aussetzen, um das Leben der mehr als 30 ihm unterstellten Arbeiter nicht zu gefährden, die etwa 150 Meter über dem Meeresspiegel arbeiteten. Der Bürgermeister der Stadt Yalova kündigte an, ein Ehrenmal für Kishi zu errichten.
Historisch gesehen, sind aus Japan Selbsttötungen von Samurai, die in der Edo-Zeit für öffentliche Bauarbeiten verantwortlich waren, überliefert. Als z.B. das Fürstentum Satsuma 1754 bis 1755 auf Befehl der Tokugawa drei Flüsse nahe Nagoya eindeichen mußte, nahmen sich im Laufe der Arbeiten 61 damit betraute Beamte des Fürstentums das Leben. Ein Beamter der Tokugawa ließ sich beim Abschluß dieser Arbeiten sogar als „menschlicher Pfeiler“ (hitobashira 人柱) in einen der Deiche einmauern.
Für das Phänomen der „Selbsttötung, um Verantwortung zu übernehmen“, existiert sogar ein japanischer Begriff: Inseki Jisatsu 引責自殺. Die Psychiater Takei Nori und Nakamura Kazuhiko von der Universität Hamamatsu verweisen darauf, daß es hierfür zahlreiche von den Medien aufgegriffene Beispiele gibt, die Menschen in sozial gehobener Stellung betreffen: Politiker, Unternehmer oder Schulleiter; aber auch Eltern von Kindern, die Opfer von Gewalttaten geworden sind. Natürlich tragen solche Suizide in keiner Weise zur Lösung der dahinterstehenden Probleme bei und sollten auch nach Ansicht von Takei und Nakamura verhütet werden. Aber, so ihr Fazit über Japan:
Seltsamerweise wird die Prävention solcher Vorfälle kaum diskutiert, als ob sie gesellschaftlich und kulturell akzeptiert wären.1
1Nori Takei, Kazuhiko Nakamura: „Is inseki-jisatsu, responsibility-driven suicide, culture-bound?“ In: The Lancet 363 (24.04.2004), S. 1400
Das Beitragsbild zeigt Kishi vor seinem Suizid auf der Baustelle.
Ich berichte nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind und wenn Sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die Deutsche Depressionshilfe ist wochentags unter 0800-3344533 zu erreichen.