Am 1. September 2006 veröffentlichte Joseph Kahn, mit dem Pulitzer-Preis gekrönter China-Spezialist der New York Times, dortselbst einen Artikel mit der Überschrift: Where is Mao? Chinese Revise History Books. Er berichtete darin über ein in Shanghai entwickeltes und seit kurzem an den dortigen Oberschulen eingesetztes Geschichtsschulbuch, das dem bislang dort (und anderswo) üblichen chronologischen Erzählschema nicht mehr folgte, sondern die Schüler thematisch mit der Entwicklung von Schlüsselfeldern der menschlichen Zivilisation vertraut machen wollte. Das Wort Revolution, bislang ein Hauptstichwort zur Erklärung der jüngeren chinesischen Geschichte, tauchte dabei kaum noch auf, jedenfalls nicht als zentrales Paradigma — und mit ihm verschwandt auch Mao Zedung in eine marginale Anmerkung. Dies alles, so mutmaßte der Preisjournalist, sei auf die Absicht der Parteiführung zurückzuführen, Geschichte zum Verschwinden zu bringen und den Schülern modische Trends statt harte chronologische Fakten nahebringen zu wollen — sie also zu entpolitisieren.

Kurz darauf klingelte beim Shanghaier Bildungskomitee das Telefon. An der Leitung war der Bildungsminister der chinesischen Zentralregierung. Er verlangte von den Shanghaier Genossen, das von Kahn vorgestellte und kritisierte Schulbuch zurückzuziehen und an seiner Stelle wieder wie früher das vom Ministerium zugelassene nationale Lehrbuch einzusetzen. Die lokalen Genossen widersetzten sich. Der Kompromiß lautete: Shanghai darf weiterhin ein eigenes Lehrbuch benutzen, aber dasjenige, welche Kahn der Weltöffentlichkeit vorgestellt hatte, wurde sofort aus dem Verkehr gezogen.

Vielen Dank, möchte man dem Pulitzer-Preisjournalisten hinterherrufen. Natürlich ironisch gemeint. Der große China-Spezialist hat nämlich ein paar entscheidende Details nicht erkannt: Daß Shanghai gerade erst innerhalb Chinas die Freiheit gewonnen hatte, eigene Schulbücher jenseits der Aufsicht der Parteizentrale zu schreiben und einzusetzen; und daß das neue Schulbuch ein Versuch war, radikal mit der alten, den Schülern seit Generationen eingetrichterten Narration im Geiste des Historischen Materialismus zu brechen. Perdu.

Der Auftrag, ein neues, nun den klischeeverschleierten Augen der chinakritischen Auslandspresse (und dem Parteistandpunkt) genehmes Schulbuch zu schreiben, wurde einer anderen Universität in Shanghai übertragen. Deren Rektor nahm sich aber vorsichtshalber gleich selbst aus der Schußlinie: Wegen anderer Aufgaben könne er leider nicht daran mitwirken. Vielleicht sollte man Joseph Kahn fragen, ob er als Autor zur Verfügung stände. In Beijing würde es sicher gefallen.

(Einen bescheidenen Abklatsch von Kahns Artikel veröffentlichte 2006 übrigens auch die ZEIT. Ohne Quellenangabe.)