Meine Mutter ist jetzt 101 Jahre alt und hat ein völlig ungetrübtes Gedächtnis. Zwangsläufig hegt sie deshalb Erinnerungen an so manche Katastrophe, die ihr in nun mehr als einem Jahrhundert begegnet sind. Und es zeigt sich, wie wertvoll ein gutes Gedächtnis ist — sowohl für den einzelnen als auch für die ganze Gesellschaft.
Die erste Krisen-Erinnerung meiner Mutter ist wohl der Tod ihres Vaters 1927 während einer Grippewelle. Das ist heute natürlich ein ganz aktuelles Thema. Es folgte die Weltwirtschaftskrise, von der meine Mutter sich erinnert, wie sie ihren Kinderwagen voll Papiergeld zum Einkaufen gefahren hat. In der Nazi-Zeit verteilte meine Mutter zunächst Flugblätter der Bekennenden Kirche, auf denen gegen die Verhaftung von regimekritischen Pfarrern protestiert wurde — darunter sehr bald auch ihr eigener Verlobter. Dann kam der Krieg, dann kam die Nachkriegszeit.
„Da gab es doch“, fragte ich vor wenigen Tagen unter Berufung auf das, was ich selbst nur aus Studium und Lektüre kannte, und weil Bundeskanzlerin Merkel uns gerade auf die „größte Krise in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg“ eingestimmt hatte, „nach dem Krieg auch Epidemien — Typhus beispielsweise.“ — „Richtig“, erwiderte sie. „Aber der Unterschied zu heute: Überall bekam man Impfungen.“
So war es wohl tatsächlich. Gegen grassierende Krankheiten, die bereits wissenschaftlich erforscht waren, konnte man wenigstens Vorbeugung betreiben. „Ich weiß gar nicht“, sagte meine Mutter dazu, „wogegen ich damals alles behandelt wurde. Wohin man auch kam, man wurde sofort zwangsweise mit irgendetwas geimpft oder überschüttet.“ DDT, vermute ich natürlich, gegen Läuse.
Meine Mutter hat dies alles (und noch mehr) überstanden (wenn es interessiert: hier ihre Lebenserinnerungen) und hinzugefügt: „Und nun bin ich durchaus nicht gewillt, 101 Jahre gelebt zu haben, um durch Corona zu sterben.“
Recht so, sagte ich, und schickte ihr eine Packung Atemschutzmasken, die ich zuhause vorrätig hatte. Damit geht sie nun brav zum Einkaufen, und ich hoffe, daß sie sie sicher behüten.
— Moment. Warum hatte ich Atemschutzmasken vorrätig?
Weil ich als Japanologe sozusagen berufsbedingt ein etwas eigenartiges kulturelles Gedächtnis habe. Es ist nämlich wohl der Spanischen Grippe von 1918 zu verdanken, einer Pandemie von verheerenden Ausmaßen, daß seither in ganz Ostasien die Menschen, sobald sie selbst von einem Infekt geplagt werden oder eine Grippewelle um sich greift (und heute häufig auch zur Abwehr von Blütenpollen), ohne besondere Aufforderung Atemschutzmasken tragen. Daher ist es in China, Japan und Korea völlig üblich, daß jede Familie einen kleinen Vorrat solcher Masken bei sich hat. Während der SARS-Krise von 2002/2003 stieg der Bedarf an diesen Masken so rasch an, daß eine echte Krise ausbrach. Ich reiste damals häufig in Ostasien umher, beobachtete und lernte — und vermutete, daß eine solche Lage auch in Europa durchaus einmal möglich sein dürfte. Also legte ich meinen eigenen Vorrat an und nahm ihn mit nach Deutschland.
Dort lagerte er jetzt also, und meine (japanische) Frau war schon drauf und dran, ihn als unnütz und überflüssig zu entsorgen. Zum Glück hat sie es nicht getan. … Mögen andere also Toilettenpapier sammeln: Ostasienwissenschaftler halten sich eher an Masken.
Der heutige Run auf Toilettenpapier konnte Japanologen übrigens auch nicht überraschen. Während der ersten Ölpreiskrise von 1973 war es nämlich genau das Toilettenpapier, das in Japan plötzlich zur Mangelware wurde. Nicht das Erdöl selbst — nein, Toilettenpapier! Es wurde in Unmengen von den Japanern gehortet, in der irgendwie begründeten Vermutung, ein Anstieg der Erdölpreise könne hier zu einer Produktionskrise führen. Das löste damals Verwunderung aus und wurde unter Japanologen heiß diskutiert. In Deutschland würde so etwas doch nie passieren …
So lehrt uns Asienwissenschaftler die Corona-Krise also tatsächlich doch: Es gibt noch mehr Universalien, als wir bislang vermutet hatten! Das Bedürfnis nach Toilettenpapier gehört offenbar dazu. Oder umgekehrt: Japaner sind auch nur ganz normale Menschen.
Es ist also enorm wichtig und hilfreich, auch und gerade in Krisensituationen sein kulturelles Gedächtnis zu pflegen. Aus meinem Geschichtsstudium erinnerte ich mich auch noch daran, daß ein italienischer Dichter namens Boccaccio der Großen Pest von 1348 ein ganzes Werk der Weltliteratur gewidmet hat: Das Dekameron, die Sammlung von hundert Kurzgeschichten, die sich zehn junge Leute in freiwilliger Selbstisolation an zehn Tagen erzählt haben. In der Einleitung gibt Boccaccio eine bewegende Schilderung der Auswirkungen der Pest auf seine Gesellschaft. Dieses Werk hat Boccaccio unsterblich gemacht. Gemeinsam mit seinen Zeitgenossen Dante und Petrarca wird er bis heute als Vater der italienischen Literatur verehrt; die drei werden — soviel Ironie muß sein — als die „drei Kronen“ bezeichnet, tre corone …
Ich habe nun angefangen, das Dekameron in der schönen Übersetzung von Karl Witte in einem Podcast vorzulesen. Um das kulturelle Gedächtnis aufzufrischen. Wer es sich anhören will, findet es hier.
27
Mar 2020