Natürlich sind Japaner an Taifune gewöhnt; sie kommen regelmäßig übers Land. Im allgemeinen entstehen sie nahe dem Äquator südöstlich von Japan, rücken dann nach Nordwesten vor und ziehen entweder an Japan vorbei oder fallen ins Land ein, bevor sie Richtung Osten abziehen.
Ende Juli 2018 war dies anders. Am 22. Juli meldete das US-amerikanische Taifunwarnzentrum eine Tropische Depression (die mögliche Vorstufe eines Taifuns) westlich von Guam, etwa 1500 km südöstlich von Okinawa. Am 23. wurde klar, daß sie sich nicht Richtung Okinawa, sondern nach Osten entwickelte und dort möglicherweise als Taifun in Tōkyō ankommen würde. Am 24. wurde klar, daß noch gar nichts klar war: Die Vorhersagen für das Auftreffen an Land schwankten zwischen der Kantō-Region mit Tōkyō und dem äußersten Nordosten der Insel Honshū. Am 25. wurde der Wind zu einem Tropischen Sturm aufgewertet und erhielt den internationalen Namen Jongdari, das koreanische Wort für „Feldlerche“. In Japan nannte man ihn Taifun Nr. 12. Man rechnete damit, daß er zur stärksten oder zweitstärksten Sturmkategorie gehören würde. Entsprechend wurden Warnungen in Japan ausgegeben. Als „Aufschlagsort“ sah man jetzt die Region um Tōkyō an. Am 26. Juli änderte sich dies jedoch: Nun wurde die Izu-Halbinsel als gefährdet angesehen, mithin die Region um Shizuoka und Hamamatsu. Der Sturm würde, so rechnete man, Honshū Richtung Korea überqueren und dann auf die koreanische Halbinsel auftreffen. Im Zentrum Honshūs rechnete man mit dem Schlimmsten.
Es kam jedoch ganz anders. In der Nacht des 29. Juli traf Jongdari auf der Halbinsel Shima nahe Ise auf Land, also weitab von Tōkyō oder Shizuoka. Es gab in der Region der japanischen Inlandssee zwei Dutzend Verletzte, heftigen Regen und Stromausfälle, zahlreiche Fähr- und Flugverbindungen wurden eingestellt. Doch insgesamt waren Windgeschwindigkeit und Zerstörungskraft des Sturms deutlich niedriger als befürchtet. Fein, dachte man, dann würde er noch ein bißchen über Kyūshū hinwegziehen und sich Richtung China in ein, zwei Tagen auflösen. Man stufte Jongdari wieder zu einer Tropischen Depression herab.
Aber das war voreilig. Tatsächlich gab es Vorhersagen, die damit rechneten, daß Jongdari sich südwestlich von Kyūshū in einer Schleife bewegen und damit zu neuer Kraft kommen würde. Das erschien völlig absurd und nie dagewesen — doch genau so kam es. Am 31. Juli war Jongdari wieder als Sturm anerkannt. Er bewegte sich jenseits aller meteorologischen Spielregeln um die Südspitze Kyūshūs herum ostwärts, löste dort und auf Shikoku nochmals heftigen Regen aus, wechselte abrupt bei den Inseln Yakushima und Tanegashima erneut seine Richtung, zog nochmals südlich von Kyūshū vorbei und endlich nach China weiter, wo er nahe Shanghai als Tropische Depression ankam.
Auf der Landkarte ähnelt die Route von Jongdari also einem riesigen Fragezeichen.
Das Fragezeichen bildete sich auch im Kopf der Japaner, die so etwas noch nie erlebt hatten. Für dieses extrem seltene Phänomen erfand man deshalb den Begriff „gegenläufiger Taifun“ (逆走台風 gyakusō taifū). Als wissenschaftliche Erklärung gilt, daß ein pazifisches Hoch und ein tibetisches Hoch stabil über Japan lagen, während ein Höhenzyklon mit Kaltluft („cold-core low“) als Tiefdruckgebiet von Hokkaidō nach Süden strömte. Dadurch wurde Jongdari gegen den Uhrzeigersinn abgelenkt. Verwirrung also überall.
9
Aug 2018