In seiner Rede vom 27. Dezember zitiert Abe ein Gedicht von Ambrose Bierce (1842–1914), in dem dieser nach dem nordamerikanischen Sezessionskrieg von seinen siegreichen Landsleuten Respekt vor den Toten der Südstaaten einforderte. Ob Abe das gesamte Gedicht mit dem Titel „To E. S. Salomon“ gelesen hat, ist fraglich. Doch es paßt durchaus zu seiner Rhetorik der großherzigen Versöhnung. Denn Bierce warnt den Sieger davor, sich auch für moralisch überlegen zu halten, und predigt einen Werterelativismus, mit dem auch Abe keine Schwierigkeiten hätte:

What if the dead whom still you hate | Were wrong? Are you so surely right? … The years go on, the old comes back | To mock the new …

„Das Alte kehrt zurück und verhöhnt das Neue“ — in der Tat ein treffliches Motto für Abes Rede.

Pearl Harbor in Technicolor

Die Rede beginnt mit pathetischem Kitsch: Die historische Kulisse — blaue Bucht, weiches Licht, das ewige Meer. Abe evoziert die Geister patriotischer Soldaten, deren Hoffnungen auf ein gutes Leben jäh von japanischen Bomben zerstört wurden. Das Flammenmeer vor seinem geistigen Auge macht ihn (natürlich nur vorübergehend) sprachlos und traurig. So ähnlich hätte es wohl jeder Hollywood-Film auch dargestellt.
Doch ihr Opfer war nicht umsonst: Japan, der alte Feind, hat dem Krieg abgeschworen, und Abe erneuert diesen Schwur vor den Toten. Warum genau, erwähnt er nicht. Daß Japan erst eine totale militärische Niederlage erleiden mußte, daß seine eigenen Städte von amerikanischen Bombern unter dem Motto Rache für Pearl Harbor in Klump und Asche gelegt werden mußten — bleibt unerwähnt.

Der Krieg begann also in Pearl Harbor?

Der Krieg, so Abe, begann in Pearl Harbor. Und damit schreibt er an dem Mythos weiter, den er und seine Gesinnungsgenossen von ihren Großvätern übernommen haben. Als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen dem japanischen Krieg gegen China und dem japanisch-deutschen Bündnis, als hätten die USA nicht auch dafür gekämpft, China und Korea und Südostasien von japanischer Aggression zu befreien. Rache für Pearl Harbor — das war tatsächlich ein Motiv für viele junge Amerikaner, die sich zum Kriegsdienst meldeten. Aber für ihre Vorgesetzten und für die zivile Führung stand dies niemals im Zentrum ihrer Kriegsziele. Pearl Harbor ist nur die Kulisse für etwas Größeres, über das Abe hier geflissentlich schweigt.

Meine Krieger, deine Krieger

Nicht zufällig spricht Abe dagegen über den Mut der eigenen Krieger, die gleichfalls nur ihre Patriotenpflicht getan hätten — der Aggressor ist seinem Opfer also moralisch gleichwertig. Der Marineflieger Iida Fusata, der sich, nachdem er keine Chance mehr hatte, zu seinem Flugzeugträger zurückzukehren, mit seiner Maschine auf die Amerikaner stürzte, wird in interessierten Kreisen gern als erstes Beispiel eines Kamikaze-Fliegers betrachtet. Abe sieht auf beiden Seiten nur Helden, denen Respekt gebührt. Die Tapferen ehren die Tapferen. Wenn er das so sagt — als Enkel eines Kriegsverbrechers –, dann klingt das in der Tat nach Relativismus. Und nach Hurrapatriotismus. Right or wrong, my country

Die Größe des Verlierers

Die USA haben gesiegt, und sie haben den Verlierern, wie Abe sagt, die Hand zur Versöhnung gereicht. Das haben die Japaner nicht erwartet, das hat sie moralisch überwältigt und zu Freunden der Amerikaner gemacht. Abe nennt dies „Großmut“ oder „Großherzigkeit“ — auf japanisch kan-yō 寛容, was hier definitiv nicht „Toleranz“ bedeutet. Anders gesagt: Die USA haben auf die Logik von Vergeltung — die Kette des Hasses, der neuen Haß erzeugt, wie Abe sagt — verzichtet. Damit haben sie die Herzen der Japaner gewonnen.
Es ist gut und richtig, daß Abe dies so darstellt. Aber hinter diesen Worten ist auch der Trotz des Verlierers zu spüren: Stolz sei Japan darauf, sich (dank der amerikanischen Großmut) nach dem Krieg positiv verändert zu haben. Dankbar sei es für die amerikanischen Wohltaten.
Punkt.
Kein Wort der Abbitte.
Warum auch? Japan hat 1941 nach Abe schließlich nichts Verwerfliches getan … und nach 1945 das Richtige getan, nämlich die ausgestreckte Hand des Siegers ergriffen und sich aus der Tiefe der Niederlage hochziehen lassen, umarmen lassen, einbinden lassen in ein Bündnis, das ein leuchtendes Beispiel für alle Welt geben soll.
Völker der Welt, seht auf dieses Bündnis. Die Amerikaner sind so großartig, ihr dürft sie gern überfallen und anschließend mit Großmut und Freundschaft rechnen. Wir Japaner bürgen dafür.

Was Schubert gesagt hätte

In all dieser Logik fehlt dann vielleicht doch das rechte Verständnis dafür, was den Japanern nach 1945 wirklich geschenkt wurde. Nämlich Gnade.
Haben sie, haben die japanischen Marineflieger wie Iida Fusata sich eine ehrenvolle Behandlung durch die Amerikaner verdient? Haben sie sich Anspruch auf Vergebung und Freundschaft erworben, z.B., indem sie ihrerseits die amerikanischen Kriegsgefangenen gut behandelt oder in Japan Denkmäler für die Opfer von Pearl Harbor errichtet hätten?
Nicht wirklich.
Es war unverdiente Gnade — überaus politisch-strategisch motiviert und rational nachvollziehbar, zweifellos. Aber dennoch Gnade.
Vielleicht sollte der nächste japanische Ministerpräsident in Pearl Harbor, wenn er denn unbedingt eine Rede halten will, sich lieber an Franz Schubert halten und einfach sagen:
Nur danken kann ich, mehr doch nicht.