Zwischen den ostasiatischen Staaten herrscht aktuell intensives Mißtrauen. Das japanisch-südkoreanische Verhältnis ist so schlecht wie seit Menschengedenken nicht mehr, seitdem Japans Regierung einseitig eine Neuinterpretation der japanischen Verfassung beschlossen hat, wonach japanische Streitkräfte zukünftig im Rahmen „kollektiver Selbstverteidigung“ weltweit eingesetzt werden können — einschließlich der koreanischen Halbinsel. Die VR China wirft sich demonstrativ Südkorea an den Hals (soeben haben Beijing und Seoul die Einrichtung eines militärischen Krisentelefons vereinbart) und will damit sowohl Japan als auch Nordkorea verunsichern. Die Bevölkerung Taiwans mißtraut der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung ihres Landes mit China; es steht zu erwarten, daß die regierenden Nationalisten die nächste Präsidentenwahl verlieren werden. Auch in Japan befinden sich die Popularitätswerte der Regierung Abe im steilen Sinkflug, was auch daran liegt, daß der Glaube in die phantasievoll beschworenen „Abenomics“ geschwunden ist.
Nordkorea ist verständlicherweise schockiert darüber, daß China ihm immer mehr die kalte Schulter zeigt. Ein halbes Jahr lang gab es vom großen Bruder keine Öllieferungen mehr — was angeblich dazu führte, daß die nordkoreanischen Truppenführer aufs Fahrrad umsteigen mußten. Demonstrative Raketensalven ins Meer erzielten nicht mehr den üblichen Effekt. Der Süden scheint ganz auf seine neuen Freunde in Beijing zu setzen und kein übermäßiges Interesse an neuen Verhandlungen mit den eigenen Brüdern zu haben.
Gut, daß es Japan gibt. Für die Regierung Abe ist Nordkorea nämlich ein hochwillkommener Verhandlungspartner. Deswegen wird spätestens seit März 2014 intensiv zwischen beiden Ländern verhandelt. Offenbar — und dies ist der entscheidende Unterschied zu früher — ohne Abstimmung und präzise Information des Südens und der USA. Dies widerspricht zwar dem Geist des Japanisch-Südkoreanischen Grundlagenvertrags von 1965, dessen 50. Jahrestag nächstes Jahr zu feiern niemand so richtig Lust hat. Aber der Regierung Abe ist das schon deswegen egal, weil man Seoul auf diese Weise richtig ärgern kann. Der Verhandlungsgegenstand scheint harmlos: Es geht um die nach japanischer Darstellung bis zu 450 in den letzten Jahrzehnten spurlos verschwundenen Japaner, von denen ein Großteil nach Nordkorea entführt worden sein soll. Nordkorea hat früher schon ein Dutzend solcher Fälle eingeräumt; fünf Japaner durften bisher in ihre Heimat zurückkehren, die übrigen sollen tot sein. Die Tochter einer angeblich Verstorbenen namens Yokota Megumi durfte im März erstmals ihre japanischen Großeltern in der Mongolei treffen. Da die Mongolei zu beiden Staaten diplomatische Beziehungen unterhält, gilt sie als neutraler Boden. Vielleicht geht es auch hier um mehr als nur das, denn Japan ist seit längerem Großinvestor in diesem „postkommunistischen“ Staat. Vielleicht geht es hier auch um so etwas wie ein Modell für die Entwicklung Nordkoreas mit japanischer Hilfe. Denn das dürfte zweifellos die Hoffnung Pyongyangs sein: Im Gegenzug für eine Normalisierung der Beziehungen mit Japan nebst Rückgabe der Entführungsopfer zunächst die Aufhebung der japanischen Sanktionen, dann die Einrichtung von japanisch finanzierten Sonderwirtschaftszonen, schließlich umfassende Investitionen. Dies alles unter Ausschluß der Südkoreaner — für Nordkorea und Japan ein Traumszenario. Für Südkorea allerdings der ultimative Albtraum.
Unrealistisch? Weit hergeholt?
In den letzten Wochen häufen sich jedenfalls die Hinweise darauf, daß es in diese Richtung gehen könnte. Anfang Juli berichteten südkoreanische Medien, Japan und Nordkorea hätten sich darauf geeinigt, daß Yokota Megumis Tochter ihre Großeltern in Japan besuchen dürfe. Gestreut wurde diese Nachricht von den Angehörigen der (noch viel zahlreicheren) südkoreanischen Entführungsopfer, die natürlich eifersüchtig beobachten, ob die Japaner in dieser Frage von Nordkorea besser behandelt werden als ihre Leute. Das ist für die südkoreanische Regierung äußerst unangenehm, weil es sie unter innenpolitischen Druck setzt, so daß man sich ernsthaft fragen kann, ob Südkorea an einem Erfolg der japanisch-nordkoreanischen Verhandlungen wirklich gelegen sein kann.
Am 20. Juli berichtete die „Japan Times„, Nordkorea habe bei verdeckten Ermittlungen innerhalb des eigenen Landes herausgefunden, daß in einem Haus in Shinŭiju 新義州, einem am Yalü-Fluß direkt an der chinesischen Grenze gelegenen, in der Kolonialzeit aufgebauten Ort, mehr als 10 Japaner untergebracht seien. Japans Regierung sei darüber bereits informiert worden. Kim Jong-un plane wohl, diesen und anderen Japanern bis Oktober 2015 die Rückreise nach Japan zu gestatten.
Japans Erwartungen zielen auch auf den Oktober, allerdings auf den Oktober 2014: Innerhalb von drei Monaten erwartet Japans Regierung die Rückkehr der Entführten als Gegenleistung für die teilweise Aufhebung der gegen Nordkorea verhängten Sanktionen.
Warum diese Eile? Weil — und damit rundet sich das Bild — ein Erfolg in dieser Frage für die angeschlagene Regierung Abe ein Gottesgeschenk wäre. Angeblich plant Abe für September einen Blitzbesuch in Nordkorea. Dessen Ergebnis soll die Heimkehr der Entführten sein. Dann kann Abe den Reichstag auflösen und in Erwartung eines sicheren Triumphes Neuwahlen ansetzen. Ein Geniestreich — so denkt man zumindest in Tokyo.
Allerdings paßt dieses Szenario den Amerikanern überhaupt nicht. Außenminister John Kerry hat Japans Regierung davor gewarnt, eine Fortsetzung von Japans Geheimdiplomatie mit Nordkorea und insbesondere ein Besuch Abes in Pyongyang würde die japanisch-amerikanisch-südkoreanischen Beziehungen erheblich „stören“. Japan solle seine Nordkorea-Politik gefälligst im voraus mit den USA abstimmen.
Was wird nun also passieren?
Szenario 1: Abe pfeift auf die USA, zieht seinen Coup durch, gewinnt die Wahl und einen neuen Freund, nämlich Kim Jong-un. Südkorea wird toben und in Beijing werden jede Menge Reissäcke platzen (was Abe zur Zeit egal sein kann, weil es kaum noch schlimmer kommen kann), Japans Wirtschaft wird jubilieren; Japans Bevölkerung allerdings wird sich erstaunt die Augen reiben, galt doch Nordkorea bislang als der Erzfeind überhaupt. Aber diese Wende werden die japanischen Medien flink hinbekommen. Da Nordkorea versprechen wird, seine Atomwirtschaft vollständig in die Hände der Japaner zu legen, wird die Welt applaudieren (bis auf Südkorea, für das dieses Szenario eine riesige wirtschaftliche Niederlage bedeutet). Die USA werden natürlich keine Sanktionen gegen Japan verhängen und zum ersten Mal seit 1971 hinnehmen müssen, daß eine belangreiche Entwicklung in Ostasien ohne ihre Lenkung stattgefunden hat.
Szenario 2: Business as usual. Abe kneift, irgendein lächerlicher Anlaß wird gefunden, um die Verhandlungen mit Nordkorea abzubrechen, woraufhin Nordkorea zwei bis zwölf Atomtests durchführen und drei bis fünf südkoreanische Kriegsschiffe versenken wird. Im übrigen bleibt es beim Status Quo, worüber sich vor allem die VR China, Südkorea und die USA freuen werden. Abe scheitert zum zweiten Mal am Widerstand der USA und zieht sich in ein Kloster zurück.
Die Chancen stehen 95:5, daß Szenario 1 nicht Wirklichkeit wird. Eigentlich schade. Denn zum ersten Mal seit langem besteht die realistische Möglichkeit, echte Bewegung in eine verfahrene Situation zu bringen.
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Jul 2014