In den letzten Szenen ebbt das Popkorn-Geraschel endlich ab. Stattdessen hört man es verdächtig schniefen. Erwachsene wischen sich verstohlen über die Augen: Kaguyahime kehrt auf den Mond zurück. Natürlich, mag man denken: das weiß doch jeder. Die Geschichte gehört zum ganz alten Märchenschatz Ostasiens, und Takahata Isao bleibt den altbekannten Handlungslinien dieser Geschichte, dem Taketori Monogatari also weitgehend treu. Ist sein Film, der neueste Anime aus der Produktion des Studio Ghibli, nichts als ein Märchen also?
So nicht. Denn mit der Erfahrung und Phantasie eines genialen Anime-Regisseurs macht Takahata aus einer Märchenfigur ein glaubwürdiges, wenngleich rasch wie ein Bambussproß aufwachsendes, echtes Menschenkind: als Baby schreit es und saugt an der Stiefmutterbrust; als junge Frau lehnt sie sich gegen die einengenden, lebensfeindlichen Regeln der vornehmen Gesellschaft auf und entdeckt ihre Liebe zur freien Natur und zu jenem jungen, freien Burschen Sutemaru, der schon ihr Spielkamerad während ihrer kurzen Kindheit war. Sie empfindet Mitleid, als sie erkennt, daß die fünf Höflinge, deren Werben sie mit wahnwitzigen Forderungen zum Scheitern bringt, dadurch ins Unglück stürzen. Und sie, das Kind vom bleichen, freud- und leidlosen Mond, erlebt ein einziges Mal den Höhepunkt körperlicher Liebe; denn so deute ich die Sequenz, in der sie mit Sutemaru Hand in Hand über die Wiesen und Wälder ihrer Kindheit schwebt und ihn, voller Angst vor der drohenden Rückkehr auf den bleichen, leblosen Mond bittet, sie fest an sich zu drücken: daku 抱く, das Wort, das sie hier benutzt, hat eine eindeutige sexuelle Konnotation. Doch diese Szene voll aller Leidenschaft, die junge Menschen miteinander teilen können, endet jäh: Sutemaru kommt zu sich, als wäre alles ein Traum gewesen, und wird daran erinnert, daß er inzwischen der Mann einer anderen Frau und der Vater eines anderen Kindes ist. Kaguyahime, die nun weiß und auch ausspricht, daß sie mit Sutemaru hätte glücklich werden können, reicht diese Erfahrung, um sich dem selbstverschuldeten Schicksal, der Rückkehr auf den Mond, in Frieden zu stellen.
Denn das ist neu gegenüber dem Original dieser Geschichte: Takahata weiß, daß zu einer echten Tragödie eine Mitschuld der Heldin und eine Erkenntnis der eigenen Schuld vonnöten ist. Kaguyahime läßt sich zurückrufen, weil sie glaubt, anderen Menschen (und sich selbst) nur Unglück zu bringen. In der Sekunde, als sie ihren Irrtum erkennt, will sie diesen Wunsch zurücknehmen, weiß jedoch, daß dies unmöglich ist.
Die Rührung, die das Publikum verspürt, ist also ein typischer Effekt der Katharsis, welche die alten Griechen beim Publikum hervorrufen wollten: Das Glück wäre ja nicht unmöglich gewesen, wenn alles ein klein wenig anders gelaufen wäre; wenn der Stiefvater die Zeichen des Himmels ein wenig anders interpretiert hätte und seine Frau ein wenig mehr Widerstand geleistet hätte, usw. Aber diese vielen Wenns sind vergeblich. Am schwersten zu ertragen ist nicht, daß Kaguyahime gehen muß; sondern daß sie am Ende alles vergessen wird. (Die Eltern sterben übrigens nicht vor Gram wie im Original.)
Aus einem Märchen eine griechische Tragödie im Gewand des heianzeitlichen Japans zu machen, noch dazu mit Zitaten und Farben aus dem grotesken Bildvorrat der traditionellen Bildrollen und bei Entlarvung der Hohlheit des höfischen Lebens: nur Takahata Isao konnte einen solchen Film machen. Technisch führt er, was er in seinem letzten Film Die Yamadas von Nebenan (Tonari no Yamada-kun となりの山田くん) begonnen hatte, konsequent fort: Die Bilder erscheinen wie mit dem Pinsel gezeichnet; die nervtötende Dreidimensionalität der amerikanischen Animationen fehlt völlig, statt dessen gelingt es Takahata, den zweidimensionalen Raum transparent, tief und zugleich superflat zu machen. Das ist bezaubernd, hinreißend schön und insbesondere in den beiden Traumszenen so überragend elegant und schwerelos, wie es wohl kein Pixar-Kreatur jemals werden wird. Die Musik von Hisaishi Joe tut ihr Übriges (schon die Begleitmusik zur Heimholung der Prinzessin ist köstlich). Die Synchronsprecher sind perfekt ausgewählt; die 22-jährige Asakura Aki 朝倉あき als Kaguyahime ist makellos: kräftig und lebhaft, genau wie der 26-jährige Kōra Kengo 高良健吾 als Sutemaru mit einem mit einem wunderbaren Bariton überzeugt. In einer Nebenrolle tritt auch Nakadai Tatsuya 仲代達矢 auf, der Hauptdarsteller so vieler Kurosawa-Filme. Es ist nur zu befürchten, daß eine deutsche Synchronisation der stimmlichen Ästhetik des Originals nicht genügen wird.
Jedenfalls bleibt festzuhalten: Wer diesen Film verpaßt, weiß nicht, wozu auf ihren eigenen Traditionen aufbauende und diese gleichzeitig ins Zeitalter der digitalen Kunst wendende japanische Animationstechnik fähig ist. Dieser Film muß gesehen werden.
14
Dec 2013