Durch Kamakura 鎌倉 bin ich im Laufe der Jahre immer wieder einmal gewandert: die Stadt ist traumhaft gelegen, mit bewaldeten Bergen und einem langen Strand, das Stadtzentrum mit der kleinen „Altstadt“ ist im Laufe der Jahre immer schicker geworden, und natürlich gibt es Tempel und Schreine und andere Lieux de mémoire ohne Ende.
Aber heute habe ich mir einen Belastungstest zugemutet: Eine Wanderung, teils durch Bergwald, bei im August landesüblichen 38 Grad Celsius. Ich wollte ausprobieren, wie ich mit diesem Klima zurechtkomme. Natürlich bin ich nicht in der Mittagshitze losgezogen, sondern ich verließ Tokyo um 5:30 Uhr und erreichte den Bahnhof Kita-Kamakura kurz vor 7:00 Uhr. Wer jetzt an „morgendliche Kühle“ denkt, hat schon verloren: es war schon zu dieser Zeit fast 30 Grad warm. Doch die Sonne stand noch sehr tief, so daß ich Hoffnung hatte, unbeschwert losziehen zu können — versorgt mit zwei Thermoskannen mit eisgekühltem Gerstentee und einem Liter Orangina aus dem Automaten.
Nach zehn Minuten wußte ich, was ich vergessen hatte: das Entscheidende Problem in Japan ist gar nicht die Hitze. Es ist die Luftfeuchtigkeit. Seit dieser Zeit fing mein ganzer Körper an zu schwitzen — egal, ob ich in der Sonne stand oder im Schatten. Alles, was ich trank, war im Handumdrehen wieder ausgeschwitzt. Die Sonnenschutzcrème, die ich natürlich auf meine weiße Haut aufgetragen hatte (um ihre Fähigkeit zum Schnellrösten beneide ich die Japaner), kam kurz nach dem Auftragen in weißlichen Schweißperlen wieder heraus. Nur wenig mehr nützte das Mückenspray.
Denn obwohl ich nur ganz wenigen Menschen begegnete (ehrlich gesagt: welcher vernünftige Mensch geht an einem solchen Tag wandern?), war ich nie allein. Mücken, vor allem aber Hornissen — gelbe Japanhornissen ebenso wie knallorange japanische Riesenhornissen — schwirrten von allen Seiten durch die Lüfte. Nach einiger Zeit ignorierte man das einfach. Sie mich auch.
Einen Nachteil hatte die frühe Uhrzeit: der Wanderpfad, den ich eigentlich nehmen wollte — der „Naturpfad“ 天然ハイキングコース hinter dem Kenchōji-Tempel 建長寺 — kann, wie der Tempel selbst, erst ab 8:30 Uhr betreten werden. Da ich nicht warten wollte, lief ich zum Tsurugaoka-Hachimangū 鶴岡八幡宮 weiter und von dort aus über Minamoto Yoritomos 源頼朝 Grab und den Sugimotodera-Tempel 杉本寺 zum Nikaidō-Fluß 二階堂川. Auf der anderen Seite beginnt ein Wanderweg zum 120 m hohen Kinubariyama 衣張山, was immerhin eine Steigung von 100 Höhenmetern bedeutet. Der Weg ist stellenweise steil und schmal, Wanderschuhe sind dringend zu empfehlen. Besonders gilt dies für seine Fortsetzung zum Nagoekiridōshi-Paß 名越切通, die ich fast nicht gefunden hätte. Ein älteres Bauernpaar, das sich der Jahreszeit angemessen auf einer Strohmatte im Schatten räkelte, wies mich freundlich auf den sehr versteckten Wegweiser hin. Er führte hinein ins hohe Gras: es gibt eindeutig nicht besonders viele Leute, die dasselbe probieren wie ich. Eine lange Hose sollte man also auch tragen.
Um nicht völlig zu dehydrieren, legte ich auf einer Aussichtsplattform eine Verschnaufpause. Ich wrang ungefähr zwei Liter Schweiß aus meinem T-Shirt, trank den mitgebrachten Gerstentee (eine exzellente Erfrischung) — und stellte fest, daß eine der beiden Thermosflaschen ausgelaufen war und meine mitgebrachte Wechselwäsche nun feucht war und nach Tee stank. Es war zwar heiß, aber diesig, und die Aussicht deshalb nicht so berauschend. Immerhin wehte eine hochwillkommene luftige Brise.
Nach etwa 20 Minuten kommt man dann zum Paß, der schon im Mittelalter bekannt war. Er beginnt an einer ziemlich abrupten Felskluft (das bedeutet kiridōshi), in deren unmittelbarer Nähe ein geheimnisvolles Areal versteckt liegt, das eigentlich schon seit langem historisches Denkmal ist, aber nur an wenigen Tagen im Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich ist: Die Mandaradō Yagura 曼荼羅堂やぐら sind Felshöhlengräber, die offenbar von Samurai der Kamakura-Zeit stammen. Leider war der Zaun fest verschlossen, die richtige Kombination für das Zahlenschloß fand ich nicht; also begnügte ich mich mit ein paar Fotos von außen. Schade, denn eigentlich war ich deswegen gekommen.
Hinter dem Paß beginnt die moderne Siedlung. Ich schlug mich zum Strand von Zaimokuza 材木座 durch, wo sich an einem Sonntag die Schickeria und jede Menge halbnackte Halbstarke vergnügten. An der Hauptstraße angelegt, besichtigte ich noch die methodistische Harris-Gedenk-Kirche mit dem ältesten Kindergarten in Kamakura, wo gerade ein Gottesdienst stattgefunden hatte. Kurz vor dem Bahnhof verzog ich mich in das Tokyū-Kaufhaus, besorgte mir frische Wäsche und zog mich auf der Toilette um. Bei der Gelegenheit bemerkte ich, daß nicht nur meine Wäsche klitschnaß war (mit Ausnahme meiner Wandersocken, die sich wirklich hervorragend bewährt haben), sondern auch das Portemonnaie, das ich in meiner Hosentasche aufbewahrt hatte — bis hin zu meinen Geldscheinen. Die Verkäuferin nahm es mit Fassung, daß ich sie mit einem schweißgetränkten 10.000-Yen-Schein bezahlte.
Die gesamte Route umfaßte 18,4 km (wobei zwischendurch mein GPS ziemlich ins Schleudern geriet und ich ein paar Mal den falschen Weg einschlug), für die ich ziemlich genau 6 Stunden brauchte. Das ist ein sagenhaft schlechter Schnitt, aber es waren im Wald einige Steigungen dabei, außerdem habe ich wieder fotografiert und etliche Pausen zum Trinken gemacht. Ganz deutlich gesagt: Ohne diese Pausen hätte ich die Strecke nicht geschafft. Das Laufen selbst, und das ist die wichtigste Erkenntnis, war kein Problem — die Feuchtigkeit war der größte Streßfaktor. So ist es halt im August in Japan.
Kurz bevor ich wieder zu Hause ankam, zog ein Sommergewitter herauf. Es blitzte und donnerte recht heftig, aber außer ein paar Regentropfen blieb es trocken. Diese Art von Feuchte hätte mir jetzt auch gerade noch gefehlt.
[flickr-gallery mode=“photoset“ photoset=“72157635016970903″]