Wissenschaft lebt von Menschen, die gute Ideen haben. Aber sie (diese Menschen) sind selten, und deshalb dauert es mit echtem Fortschritt oft länger als erwünscht.
Daß nicht jeder von selbst auf gute Ideen kommt, ist der in der wissenschaftlichen Praxis leider nachweisliche Ist-Zustand. Getreu dem berühmten Witz über den jungen Pfarrer, der seine Probepredigt hielt und vom Vorsitzenden der Prüfungskommission danach gesagt bekam: „Lieber Bruder, Ihre Predigt war voller neuer und guter Gedanken. Leider waren die neuen Gedanken nicht gut und die guten nicht neu.“ — Diesen Witz hat mir mein Vater erzählt, Jahrgang 1911. Ich nehme daher an, daß er schon vor dem Zweiten Weltkrieg kursiert hat. Woraus ich schließe: Wenn es um Witze geht, erzählen wir ohne jede Hemmung gern nach.
Aber bei wissenschaftlichen Arbeiten?
Da hatte ich vor Jahren einmal ein Schlüsselerlebnis. Für einen japanischen Kollegen hatte ich auf seine Bitte hin einen Aufsatz von ihm ins Deutsche übersetzt. Er hat es mir sogar bezahlt. Ich war damals Doktorand und konnte das Geld gut gebrauchen. Die Übersetzung schickte ich an die von ihm angegebene Adresse: einen deutschen Historiker, der mir als Verfasser hochtheoretischer Texte zur Wissenschaftsgeschichte und -ethik bekannt war. Sonst nicht. Ich hörte nie wieder etwas von dem Text.
Etliche Jahre später, als ich bereits Professor war, fiel mir ein Buch in die Hände, das dieser (nunmehr) Kollege herausgegeben hatte. Darin fand sich jener Aufsatz, den ich ein Dutzend Jahre vorher übersetzt hatte. Ziemlich unverkennbar war es meine Übersetzung. Aber sie war nicht unter meinem Namen veröffentlicht. Als Übersetzer wurde ein ganz anderer Mensch genannt.
Ich schrieb den Kollegen etwas verwundert an. Und bekam zur Antwort, das so etwas (also geistiger Diebstahl) völlig ausgeschlossen sei.
Diese Antwort ärgerte mich, also schaltete ich einen Rechtsanwalt ein, der zufällig besonders gut in Urheberrechtsfragen ist. Das Ganze endete damit, daß sich der Kollege und sein damaliger Doktorand bei mir entschuldigten. Mein Manuskript sei damals eingetroffen, man habe es aber nicht verwenden wollen und es dann aus Versehen doch verwandt. Oder so ähnlich. Ich verzichtete großmütig auf eine Wiedergutmachung. Nur die Rechtsanwaltskosten wollte ich erstattet haben. Woraufhin der werte Kollege sich als erstes Charakterschwein entpuppte und die Rechnung an den Doktoranden weiterreichte.
Ja, das Leben ist ungerecht. Da findet man eine gute Idee, greift sie begeistert auf — und muß dann dafür bezahlen.
Niemand kann mir weismachen, es gebe einen Wissenschaftler, der nicht wenigstens einmal hart am Rand eines Plagiats gearbeitet hat. Ich erinnere nur an die Einsichten Georg Christoph Lichtenbergs zu diesem Thema:
Wenn wir mehr selbst dächten, so würden wir sehr viel mehr schlechte und sehr viel mehr gute Bücher haben. (Heft D, Nr. 422)
Bücher werden aus Büchern geschrieben. (Heft D, Nr. 537)
Wir verstehen die Kunst, aus ein paar alten Büchern ein neues zu machen. (Heft F, Nr. 135)
Passabel auszudrücken, was andere Leute gedacht hatten, war seine ganze Stärke. (Heft J, Nr. 928)
Es wäre gewiß sehr nützlich, der Welt die Schriftsteller anzuzeigen, die mit Kenntnis anderer, die vor ihnen gewesen sind, aus sich selbst allein geschöpft haben. Durch diese allein lernt man, und es sind ihrer gewiß sehr wenige, die also jedermann leicht lesen könnte. Die andern prägen nach und sind im eigentlichen Verstande Falschmünzer. (Vermischte Schriften I, Nr. 280)
Er exzerpierte beständig, und alles, was er las, ging aus einem Buche neben dem Kopfe vorbei in ein anderes. (Vermischte Schriften II, Nr. 83)
(zitiert nach: Lichtenbergs Werke in einem Band. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 3. Aufl. 1978)