In einer dramatischen und beispiellosen Entscheidung erklärte der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol am späten Dienstagabend (3.12.2024) das Kriegsrecht, das erste Mal seit dem Kwangju-Aufstand im Jahr 1980. Yoon begründete diesen Schritt mit einer akuten Bedrohung der Verfassungsordnung und der öffentlichen Sicherheit durch „kommunistische nordkoreanische Kräfte“ und „staatsfeindliche Elemente“, die seiner Ansicht nach die Demokratie untergrüben. Er warf der oppositionellen Demokratischen Partei vor, durch legislative Maßnahmen wie die einseitige Verabschiedung von Haushaltskürzungen und Amtsenthebungsanträgen gegen wichtige Regierungsbeamte eine Art Aufruhr zu inszenieren.
Die Verkündung des Kriegsrechts, die nach Artikel 77 der Verfassung in Kriegszeiten oder bei nationalen Notfällen möglich ist, überträgt dem Militär die Kontrolle über die öffentliche Ordnung und schränkt damit die zivile Verwaltung erheblich ein. Yoon versprach, die Auswirkungen auf die Bevölkerung möglichst gering zu halten, erklärte jedoch, daß diese Maßnahme unerläßlich sei, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Landes zu bewahren. In einer emotionalen Ansprache appellierte er an das Vertrauen der Bevölkerung und betonte seine Bereitschaft, sein Leben für den Schutz der Republik Korea einzusetzen.
Han Dong-hoon, Vorsitzender der regierenden Partei People Power Party, kritisierte die Entscheidung als falsch, ohne jedoch die Autorität des Präsidenten direkt infrage zu stellen. Lee Jae-myung, Vorsitzender der oppositionellen Demokratischen Partei, wies das Kriegsrecht entschieden zurück und kündigte an, gemeinsam mit der Bevölkerung gegen diesen Schritt vorzugehen, den er als nicht akzeptabel bezeichnete.
Die südkoreanische Verfassung sieht vor, daß das Kriegsrecht unverzüglich der Nationalversammlung gemeldet werden muß, die es mit einer Mehrheit der Abgeordneten aufheben kann. Die südkoreanische Nationalversammlung verabschiedete am frühen Mittwochmorgen (4.12.2024) gegen 1 Uhr eine Resolution, die ein Ende des Kriegsrechts forderte. Alle anwesenden 190 Abgeordneten, darunter Vertreter sowohl der Regierungs- als auch der Oppositionsparteien, stimmten einstimmig dafür. Durch die Verabschiedung dieser Resolution wurde Yoons Erklärung des Notstandskriegsgesetzes innerhalb von nur 2 Stunden und 35 Minuten für „nichtig“ erklärt, wie der Sprecher der Nationalversammlung feststellte.
Nach der Verabschiedung der Resolution brachen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlamentsgebäudes Jubel und Applaus aus.
Die politischen Spannungen zwischen Regierung und Opposition sind seit langem stark ausgeprägt. Der gegenwärtige Präsident Südkoreas, Yoon Suk-yeol, und der Führer der parlamentarischen Opposition, Lee Jae-myung, stehen in einem angespannten und konfliktbeladenen Verhältnis zueinander.
Yoon Suk-yeol, der seit Mai 2022 im Amt ist, gewann die Präsidentschaftswahl 2022 gegen Lee Jae-myung, den Kandidaten der Demokratischen Partei. Er wurde mit einer konservativen Agenda gewählt, die unter anderem eine Annäherung an die USA und einen harten Kurs gegenüber Nordkorea umfasst.
Lee Jae-myung hat sich seitdem als führender Oppositionspolitiker etabliert und kritisiert Yoons Politik scharf. Er warf Yoon vor, die Demokratie in Südkorea zu gefährden und beschuldigte ihn, mit seiner Regierung pro-nordkoreanische Kräfte zu bekämpfen.
Die politische Lage ist geprägt von einem Machtkampf, da die Demokratische Partei eine Mehrheit in der Nationalversammlung hat und Yoon Schwierigkeiten hat, seine Gesetzesvorhaben durchzubringen. Lee hat zudem mehrere Initiativen zur Untersuchung von Korruptionsvorwürfen gegen Yoon und seine Frau gefordert, was die Spannungen weiter erhöht hat.
Im September 2024 brach bereits eine Diskussion um die mögliche Vorbereitung zur Verhängung des Kriegsrechts in Südkorea aus, nachdem Lee Jae-myung die Regierung beschuldigte, dies zu planen. Diese Behauptung veranlaßte die regierende People Power Party (PPP) und die Präsidialverwaltung dazu, Lees Behauptungen als „unbegründete politische Angriffe“ scharf zu kritisieren und ihn als Verbreiter von Verschwörungstheorien darzustellen.
Die oppositionelle Demokratische Partei äußerte Bedenken, daß die Regierung angesichts eines möglichen Amtsenthebungsverfahrens gegen Yoon Kriegsrecht vorbereiten könnte. Diese Sorgen basieren auf früheren Präzedenzfällen und der derzeitigen Überarbeitung des Sicherheitsapparats. Die plötzliche Ernennung von Yoons engen Vertrauten, darunter Kim Yong-hyun als Verteidigungsminister, wird von der Opposition als Vorbereitung für die Verhängung von Kriegsrecht interpretiert. Kim und andere Schlüsselpersonen gehören zur “Choongam-Fraktion”, die enge Verbindungen zu Präsident Yoon hat. Lee erwähnte, daß “Gerüchte über Kriegsrecht” zunähmen, und verwies auf die historischen Pläne des Verteidigungskommandos von 2017. Er warnte vor einem „administrativen Diktat“ und zog Parallelen zwischen früheren und aktuellen politischen Entwicklungen.
Frühere Beispiele für die Anwendung von Kriegsrecht (1960, 1961, 1979) zeigen, daß “Wachkriegsrecht” oft zu einem “Notstandskriegsgesetz” eskalierte, was umfassende militärische Kontrolle bedeutete. 2017 erwog das südkoreanische Verteidigungssicherheitskommando unter Präsidentin Park Geun-hye, das Kriegsrecht zu verhängen, um Proteste gegen die Regierung zu unterdrücken und die Nationalversammlung an der Aufhebung des Kriegsrechts zu hindern. Dieses Dokument enthielt detaillierte Pläne zur Mobilisierung des Militärs und zur Verhaftung von Abgeordneten.
Nun hat sich diese „Verschwörungstheorie“ als wahr erwiesen. Wieder einmal steht ein südkoreanischer Präsident offenbar kurz davor, seine politische Karriere im Gefängnis zu beschließen. Daß Yoon politisch bereits mit dem Rücken zur Wand stand, war seit langem klar. Sein politisches Ansehen bei der Bevölkerung hatte einen Tiefpunkt erreicht. Nun wird es erst recht niemand mehr geben, auf den er zählen kann. Für die Einführung einer Diktatur fehlt ihm jede Perspektive.
Beitragsbild: Präsident Yoon Suk-yeol beim NATO-Gipfel im Juli 2024 in Washington. Foto: Office of the President. Official Photographer : Kang Min Seok. Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0