Am 1. März 2023, dem 104. Jahrestag der koreanischen Unabhängigkeitserklärung von 1919, hielt Südkoreas Staatspräsident Yun Sŏkyŏl in Seoul vor 1.300 Zuschauern eine Rede, in welcher er als wahrscheinlich erster Präsident Südkoreas die damalige Kolonialmacht Japan als „Partner“ der Gegenwart und Zukunft bezeichnete. Die Rede ist als Teil der Initiative Yuns zu betrachten, das japanisch-koreanische Verhältnis zu verbessern; fünf Tage später präsentierte er einen Plan zur Lösung der Zwangsarbeiter-Frage, und für den 16. März plant er einen offiziellen Besuch in Japan — erstmals seit 2019. Im folgenden dokumentiere ich diese bemerkenswerte Rede in einer eigenen Übersetzung nach der offiziellen koreanischen und englischen Version dieser Ansprache.

Verehrte Bürger, verehrte 7,5 Millionen Landsleute in Übersee und Patrioten, die für die Unabhängigkeit der Nation gekämpft haben,
heute jährt sich zum 104. Mal der Tag der Unabhängigkeitsbewegung im März.
Zuallererst möchte ich unseren Märtyrern, die sich der Sache der Freiheit und Unabhängigkeit Koreas geopfert und gewidmet haben, meine aufrichtige Ehrerbietung erweisen. Mein tief empfundener Dank gilt unseren Unabhängigkeitshelden und ihren Hinterbliebenen.
Die Unabhängigkeitsbewegung von vor 104 Jahren war eine Bewegung zum Aufbau einer freien, demokratischen Nation, in der das Volk der Souverän ist, wie es in der Proklamation der koreanischen Unabhängigkeit von 1919 und in der Provisorischen Verfassungscharta der Provisorischen Regierung Koreas festgelegt wurde. Dies war ein historischer Tag, an dem unser Volk der ganzen Welt zeigte, wie sehr es sich nach Veränderung sehnte.
104 Jahre später müssen wir auf unsere Vergangenheit zurückblicken, in der wir unsere nationale Souveränität verloren haben und gelitten haben, weil wir uns nicht richtig auf die damalige welthistorische Wende vorbereitet hatten. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die jetzigen globalen, komplexen Krisen, die Gefährdung unserer Sicherheit durch die atomare Bedrohung durch Nordkorea sowie die zunehmende Fragmentierung und Polarisierung unserer Gesellschaft überwinden.
Wenn wir den weltgeschichtlichen Wandel nicht erkennen und uns nicht angemessen auf die Zukunft vorbereiten, wird sich das Unglück der Vergangenheit offensichtlich wiederholen.
Vor allem müssen wir uns an die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung erinnern, die in den tiefschwarzen, dunklen Tagen, als sich kaum jemand die Unabhängigkeit zu Lebzeiten vorstellen konnte, alles für die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes gegeben haben. Es gibt keine Zukunft für uns, wenn wir uns nicht richtig an die Verfasser der Unabhängigkeitserinnerung erinnern, die sich für unser Vaterland eingesetzt haben.
Verehrte Mitbürger,
heute, ein Jahrhundert nach der Unabhängigkeitsbewegung vom Ersten März, hat sich Japan von einem militaristischen Aggressor der Vergangenheit zu einem Partner in Fragen der Sicherheit und der Wirtschaft sowie der globalen Agenda gewandelt, der dieselben universellen Werte mit uns teilt. Insbesondere um die komplexen Krisen und die ernste nukleare Bedrohung durch Nordkorea zu bewältigen, ist die trilaterale Zusammenarbeit zwischen der Republik Korea, den Vereinigten Staaten und Japan wichtiger denn je geworden. Wir müssen in Solidarität und Kooperation mit Ländern, die unsere universellen Werte teilen, zur Förderung von Freiheit und gemeinsamem Wohlstand von uns selbst und der Bürger der ganzen Welt beitragen. Dieser Geist unterscheidet sich keinesfalls von dem Geist der Erklärung, die vor 104 Jahren nach Freiheit und Unabhängigkeit unserer Nation rief.
Verehrte Mitbürger,
der Wohlstand, den wir heute genießen, ist das Ergebnis unserer unablässigen Bemühungen, unsere Freiheit zu verteidigen und zu erweitern, sowie unseres Glaubens an universelle Werte. Wir dürfen diese Anstrengungen niemals unterbrechen. Das ist der richtige Weg, um die Märtyrer zu ehren, die sich für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Vaterlandes geopfert und eingesetzt haben.
Weder die glorreichen noch die beschämenden und tragischen Teile unserer Geschichte dürfen vergessen werden. Wir müssen uns unbedingt an sie erinnern. Um unsere Zukunft zu schützen und vorzubereiten. Während wir der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung gedenken, die sich für unser Vaterland eingesetzt haben, indem wir an die unglückliche Vergangenheit unserer Geschichte zurückdenken, müssen wir darüber nachdenken, was wir für unser künftiges Wohlergehen tun müssen.
Verehrte Mitbürger,
lassen Sie uns alle den Geist der Erklärung der koreanischen Unabhängigkeit fortführen und gemeinsam eine freie, friedliche und blühende Zukunft aufbauen.
Ich danke Ihnen allen.

Es ist allerdings fraglich, ob Yun mit diesen Äußerungen seine Popularität in Südkorea verbessert hat. Die linke Opposition hat Yun nach dieser Rede Geschichtsvergessenheit und „die schlechteste Gedenkrede aller Zeiten“ vorgeworfen. Es sei eine Beleidigung der Koreaner, zu behaupten, sie würden ihre Unabhängigkeit riskieren, wenn sie sich nicht auf die Zukunft vorbereiteten.
In einem Kommentar der linksliberalen Tageszeitung Hankyoreh äußerte auch deren Redakteur Jeong Nam-ku scharfe Kritik:

Die Beziehungen zwischen Japan und Südkorea sind seit geraumer Zeit wegen der Frage der Entschädigung der Opfer des Systems der „Trostfrauen“ und der Mobilisierung von Zwangsarbeitern angespannt. Zweifellos ist die Situation für beide Länder nicht vorteilhaft, aber wir können keine Konflikte lösen oder eine echte Zusammenarbeit aufbauen, indem wir Japan einfach nachgeben. Die Worte des Präsidenten klangen so, als wolle er, daß sich Südkorea allen Wünschen Japans beugt.
Wir haben das sechstgrößte Militär der Welt und das zehntgrößte Bruttoinlandsprodukt. Wir sind meilenweit von der Situation entfernt, in der wir uns vor vielen Jahrzehnten befanden. An einem Tag, an dem wir den Geist und die Opferbereitschaft derer ehren, die Waffen und Schwerter in die Hand nahmen, um unser Land zu retten, hat der Präsident unseren Nationalstolz zutiefst verletzt.

Das Beitragsbild zeigt einen Teil des Denkmals für die Ausrufung der koreanischen Unabhängigkeit am 1.3.1919 im Tapgol-Park in Seoul. Foto: Reinhard Zöllner