Etliche Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werden in der Ausgabe vom 23. Februar 2023 über ein ganzseitiges, mehrfarbiges Inserat im Finanzteil gestolpert sein, in dem „nachhaltiger Frieden durch Esperanto“ versprochen wird. Die EU solle die in den 1880er Jahren entstandene Kunstsprache Esperanto als Zweitsprache annehmen, um „in etwa 10 Jahren … Englisch als gemeinsame Sprache zu ersetzen“.
Inserat für Esperanto, FAZ, 23.2.2023, S. 26
Die Anzeige wurde initiiert und finanziert von dem 83-jährigen Japaner Miyoshi Etsuo 三好鋭郎, der sich selbst im Inserat als Erfinder des „kleinsten Fahrrollstuhl[s] der Welt“ vorstellte. Er leitete lange Zeit die von seinem Vater gegründete Firma Swany スワニー in Kagawa, die Handschuhe und von Miyoshi selbst erfundene behindertengerechte Rollkoffer und Rollstühle herstellt.
Nach eigenem Bekunden litt Miyoshi wegen seiner Behinderung durch Kinderlähmung als junger Mann an einer Depression und suchte auf Anraten seiner Eltern Hilfe bei der 1892 gegründeten Ōmoto-Religion. Die Ōmoto-Religion gehört seit langem zu den Unterstützern des Esperanto und möchte es nach dem Motto „ein Gott, eine Welt, eine Sprache“ zur Weltsprache erheben. Der Gründer des Esperanto, der jüdische Augenarzt Ludwik Zamenhof, gilt in der Theologie des Ōmoto sogar als Gott.
Auch Miyoshi begann im Alter von 55 Jahren, Esperanto zu lernen. Im Ruhestand widmete er sich der Werbung für Esperanto in Europa. Er schreibt darüber:

Mit dem Einverständnis meiner Frau, meinen Ersparnissen für den Ruhestand und der Unterstützung meiner Schwiegertochter veröffentlichte ich sie 2002 in der dänischen Berlinske Tidende. Dies geschah mit Unterstützung der nationalen Esperanto-Verbände, des Welt-Esperanto-Verbandes (UEA) und der Europäischen Esperanto-Union (EEU). Es folgten Belgien, Italien und Frankreichs Le Monde, und nach acht osteuropäischen Ländern waren die Mittel erschöpft. Glücklicherweise verkauften sich die [von Miyoshi erfundenen] „Walking Bags“ gut, und der Vorstand [von Swany] beschloß, daß ein Teil des Erlöses für Werbung verwendet werden konnte.

Der Japan-Historiker Ian Rapley führt das verhältnismäßig große Interesse an Esperanto in Japan darauf zurück, daß es eine vom Staat unabhängige „Graswurzel“-Bewegung war, die sich aus weltanschaulich sehr unterschiedlichen Quellen speiste, daß es Japan dabei half, mit einer globalisierten Welt Kontakt aufzunehmen, und daß es dabei half, diese Kontakte auf einfache Weise zu pflegen.1
Ganz in diesem Sinne zeigt sich auch das Titelbild der im Dezember 1928 veröffentlichten zweiten Ausgabe des Magazins „La Inter-Kulto“ (japanisch Kokusai Bunka Kokusai Bunka 国際文化). Es wurde von japanischen Kommunisten herausgegeben, die der Kommunistischen Internationale nahestanden. Die Texte im Heft waren alle auf japanisch geschrieben, doch der Titel des Magazins deutet die Verbindung zum Esperanto an, das damals viel Zuspruch in der Linken fand. Aber es gab auch rechte Intellektuelle wie Kita Ikki 北一輝, die sich dafür einsetzten. Selbst der berühmte Volkskundler Yanagita Kunio 柳田國男 und der christliche Philosoph Nitobe Inazō 新渡戸稲造, beide nicht zufällig für Japan im Völkerbund tätig, machten sich dafür stark.2 Ein weiterer Freund des Esperanto war der buddhistische Schriftsteller Miyazawa Kenji, der sogar Gedichte auf Esperanto verfaßte.
Rapley kommt zu dem Schluß:

Die japanischen Esperantisten nutzten die Sprache für eine Reihe von Anwendungen, die nur durch ihre Vorstellungskraft begrenzt waren.

Das tritt nun ganz sicher auch auf die Zeitungskampagnen des Miyoshi Etsuo zu. Die Vorstellung vom Weltfrieden, der sich einstellt, wenn die Menschheit eine gemeinsame Sprache spricht, ist so etwas wie die Umkehr des Turmbaus zu Babel und somit eine Idee mit einer langen Geschichte nicht nur in Japan.


1Ian Rapley: „Talking to the World: Esperanto and Popular Internationalism in Pre-war Japan“. In: Japan Society Proceedings 152 (2015), S. 76–89.
2Ian Rapley: „A Language for Asia? Transnational Encounters in the Japanese Esperanto Movement, 1906–28“. In: Pedro Iacobelli, Danton Leary, Shinnosuke Takahashi (Hg.): Transnational Japan as History. Palgrave-Macmillan: London 2016, S. 167–186, hier S. 178–179.