Der Staatsakt für den im Juli ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Abe Shinzō fand am 27. September 2022 unter hohen Sicherheitsvorkehrungen im Budōkan nahe dem japanischen Kaiserpalast statt. 4.300 Menschen nahmen daran teil, davon 700 Gäste aus dem Ausland. Ranghöchster Deutscher war IOC-Präsident Thomas Bach, dessen Vorliebe für Japan-Besuche in der japanischen Bevölkerung sattsam bekannt ist.

Anders als bei der Trauerfeier für die britische Königin Elisabeth II., die am 19. September in London stattgefunden hatte, traten keine geistlichen Würdenträger — etwa der „Vereinigungskirche“, zu der Abe so gute Beziehungen gepflegt hatte — auf, um den Verstorbenen zu würdigen. Die letzten Worte übernahmen Abes Nachfolger im Amt des Premierministers. Der amtierende Premierminister Kishida Fumio, einer der engsten Wegbegleiter Abes, hielt eine Ansprache, die von sentimentalen Gedanken geprägt war:

Am 8. Juli, als der Wahlkampf in die Endphase eintrat, sprachen Sie, Herr Abe, wie immer leidenschaftlich zu Ihrem Publikum über den Weg, den dieses Land einschlagen sollte. Und plötzlich wurde dies durch Gewalt unterbrochen. Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Wer hätte auch nur im Geringsten voraussehen können, daß ein solcher Tag kommen würde? Herr Abe, Sie waren derjenige, der noch lange, lange hätte leben müssen. Ich war davon überzeugt, daß Sie auch in den nächsten 10 oder sogar 20 Jahren ein Kompaß für die Zukunft Japans und der Welt sein würden. Und nicht nur ich allein. Heute sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten Japans und aus Ländern und Regionen der ganzen Welt zu Ihnen gekommen, um Ihnen ihr tiefstes Beileid auszusprechen. Ich bin mir sicher, daß sie alle mit demselben Gedanken im Kopf auf Sie blicken. Aber das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Das ist bedauerlich. Das ist der Gipfel der Bitterkeit. (…)
Im Jahr 2006 wurden Sie im Alter von 52 Jahren Premierminister, als erster, der nach dem Krieg geboren wurde. Heute erinnere ich mich heute daran, daß ich mit Spannung und Vorfreude verfolgte, wie Sie als Bannerträger unserer Generation eine Herausforderung nach der anderen in Bezug auf die grundlegenden Fragen unserer Nation annahmen, die nach dem Krieg zurückgeblieben waren. (…) Die Botschaft des jüngsten Premierministers der Nachkriegszeit an die Nation war einfach und klar: Abkehr vom Nachkriegsregime. Sie erhoben die Verteidigungsagentur zum Verteidigungsministerium mit eigenem Haushalt, erließen das Referendumsgesetz und schlugen eine wichtige Brücke zur Verfassungsreform. Sie haben das Grundgesetz für die Erziehung zum ersten Mal seit fast 60 Jahren geändert und die Saat für eine neue, japanische Identität gelegt. Im indischen Parlament predigten Sie von der „Schnittstelle der beiden Ozeane“ und brachten zum ersten Mal das Konzept des „Indopazifik“ auf den Weg. All dies sind die Grundsteine, die bis zum heutigen Tag tragen. (…) Ende 2012, als Sie wieder auf dem Stuhl des Premierministers saßen, hatten Sie sich zu einer noch stärkeren Persönlichkeit geformt. (…) Ihre vielschichtige Diplomatie hat gute Beziehungen zu allen Regionen der Welt aufgebaut. (…) Es war Abe Shinzō selbst, der sich mehr als jeder andere in der Welt für den Erhalt und die Förderung einer offenen internationalen Ordnung eingesetzt hat, die Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit schätzt und Japan, der Region und der Welt ein verläßliches Dach über dem Kopf bietet. (…) Zu Hause haben Sie junge Menschen, insbesondere Frauen, ermutigt. (…) Sie waren am längsten in unserer Verfassungsgeschichte an der Macht, aber die Geschichte wird sich an Sie für das erinnern, was Sie erreicht haben, nicht dafür, wie lange Sie an der Macht waren. (…)

Noch gefühliger sprach Suga Yoshihide, Abes rechte Hand und glückloser Nachfolger, der nach einem knappen Jahr aus dem Amt gejagt worden war:

Als ich die unglaubliche Nachricht [vom Attentat] hörte, hoffte ich, Sie würden wenigstens am Leben bleiben. Ich möchte Sie sehen, im gleichen Raum sein, die gleiche Luft atmen. Mit diesem einen Gedanken im Hinterkopf ging ich zum Ort des Geschehens, und in Ihren letzten Momenten konnte ich die Wärme und das Lächeln sehen, die nur Ihnen eigen waren.
Achtzig Tage sind seit diesem schicksalhaften Tag vergangen.
Seitdem sind die Vormittage gekommen und gegangen, und die Sonne ist untergegangen. Die lärmenden Zikaden sind irgendwie verklungen, und die Herbstwolken haben begonnen, am hohen Himmel zu treiben.
Die Jahreszeiten gehen weiter. Die Zeit vergeht ohne Sie, den Menschen, der Sie sind. Ich finde es immer noch unverzeihlich, daß es so gnadenlos weitergeht.
Warum hat der Himmel ausgerechnet eine solche Tragödie Wirklichkeit werden lassen und jemandem das Leben genommen, der es nicht hätte verlieren dürfen?
Es ist beschämend, so etwas zu sagen. Ich begrüße diesen Tag heute mit abwechselnden Gefühlen von Traurigkeit und Wut.
Aber, Premierminister Abe …, so rufe zu Ihnen, können Sie uns sehen?
Hier, rund um den Budōkan, haben sich viele Menschen versammelt, um Blumen niederzulegen und dem Staatsbegräbnis beizuwohnen.
Nicht wenige von ihnen scheinen in ihren 20ern und 30ern zu sein. Viele junge Menschen, die Führungskräfte von morgen, sind gekommen, um Sie zu bewundern und zu verabschieden.
Herr Premierminister, Sie wollten ein Japan schaffen, in dem das Morgen besser ist als das Heute. Sie haben tagein, tagaus zu den Menschen gesprochen, mit der festen Überzeugung, daß Sie den jungen Menschen Hoffnung geben wollten.
Und Japan, das japanische Volk, blüht in der Mitte der Welt. Das war Ihre übliche Formulierung. (…) Wenn wir einen Schritt zurückgehen, verlieren wir an Schwung. Sie dachten, daß sich nur dann ein Ausweg zeigt, wenn wir vorwärts gehen. Herr Ministerpräsident, Sie haben immer richtig geurteilt. (…) Für Ihre Überzeugung und Entschlossenheit sprechen wir Ihnen unsere ewige Dankbarkeit aus.
Wir werden die nationale Krise überwinden und ein starkes Japan schaffen. Wir werden uns für ein wirklich friedliches Japan einsetzen und Japan zu einem Land machen, das in allen Bereichen einen Beitrag zur Welt leisten kann.
Selbst inmitten solcher Entschlossenheit und Entscheidungen, die Tag für Tag getroffen werden, behielten Sie, Herr Premierminister, immer ein Lächeln auf den Lippen. Sie waren stets aufmerksam gegenüber Ihren Mitmenschen und haben sie mit Freundlichkeit überschüttet. (…) Ich werde es immer wieder sagen: Premierminister Abe, Sie waren ein wahrer Führer für unser Land.

De mortuis nil nisi bene, lautet eine alte zivilisatorische Regel. Es war deshalb nicht zu erwarten, daß bei der Trauerfeier die nicht so sonnigen und großartigen Seiten des skrupellosen Berufspolitikers und notorischen Lügners und sein Scheitern in allen von ihm mit Vehemenz verfolgten Großprojekten — Rückkehr der nach Nordkorea Entführten, Rückgabe der von Rußland okkupierten Inseln, Gesundung der japanischen Wirtschaft, Verfassungsreform — angesprochen würden. Oder eben der Umstand, daß 60 % der Japaner laut Meinungsumfragen eben diesen Staatsakt für unangemessen hielten. Und daß Zehntausende in ganz Japan dies auch auf Demonstrationen öffentlich bekundeten.

Die japanische Verfassung sieht die strikte Trennung von Staat und Religion vor. Das hat natürlich auch gute Seiten. Insbesondere ist der Mißbrauch der religiösen Stellung des japanischen Kaisers, wie er vor 1945 betrieben wurde, damit nicht mehr möglich. Der jetzige Kaiser nahm zwar am Staatsakt teil — oder besser: er mußte teilnehmen –, aber er durfte nichts sagen. Die böse Folge ist jedoch, daß die herrschenden Politiker damit faktisch auch zur obersten moralischen Instanz des Landes geworden sind. Es gibt in Japan keine moralische Gewaltenteilung. Der Trauerakt hat gezeigt, was passiert, wenn in einer solchen Situation diejenigen Politiker, deren Seilschaften seit Jahrzehnten den Staat für ihre Interessen geraubt haben, das letzte moralische Wort haben: Sie erteilen sich selbst Absolution, erklären sich selbst für unfehlbar („Sie haben immer richtig geurteilt“) und sprechen sich selbst heilig.
Mindestens zwölf Millionen Euro kostete dieser Akt der Selbstbeweihräucherung die japanischen Steuerzahler. In früheren Zeiten stahlen Grabräuber wertvolle Gaben, die das Trauervolk seinen Verstorbenen ins Grab gelegt hatte. Heute stehlen die Staatsräuber dem Volk, was sie ihren verstorbenen Helden ins Grab mitgeben wollen.