Mehrere Wochen lang herrschte in den Mainstream-Medien Japans peinliches Schweigen über die Hintergründe der Ermordung von Abe Shinzō 安倍晋三 am 8. Juli 2022. Doch schon bald nach der Tat sickerte durch, daß der Täter ein zwar persönliches, aber höchst politisches Motiv besaß: Seine Mutter hatte die Familienfinanzen ruiniert, indem sie sich der nach ihrem Gründer auch als Mun-Sekte bekannten, pseudochristlichen Vereinigungskirche hingab. Der Sohn sah sich durch den familiären Ruin um seine Chancen auf ein Hochschulstudium und ein gelingendes Leben gebracht und sann auf Rache. Da Sektengründer Mun Sŏnmyŏng schon lange tot ist, suchte er sich ein Opfer aus, an das er einfach herankommen konnte: Einen führenden Politiker jener Partei, die seit mehr als 50 Jahren beste Beziehungen zu der Sekte gepflegt hat — also der Liberaldemokratischen Partei Japans. Abe selbst hatte ein enges Verhältnis zur Sektenführung. Damit war er in seiner Partei nicht allein; über 100 derzeitige Abgeordnete im japanischen Parlament haben mittlerweile zugegeben, von der „Kirche“ gefördert worden zu sein. Dazu gehörte nicht nur Geld, sondern die Unterstützung durch überaus fleißige Wahlkampfhelfer. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die guten Beziehungen gehen auf die Zeit von Abes verehrtem Großvater Kishi Nobusuke zurück. Dieser war Teil eines Netzwerks stramm rechts stehender Politiker und Unternehmer, zu denen auch der umstrittene Unternehmer und „Mäzen“ Sasakawa Ryōichi (verurteilter Kriegsverbrecher wie Kishi), der im Yakuza-Milieu operierende Kodama Yoshio und der in diesem Jahr verstorbene Schriftsteller und Politiker Ishihara Shintarō gehörten. Diese vier — neben vielen weiteren damals prominenten Unterstützern des Antikommunismus — engagierten sich in den von der „Vereinigungskirche“ initiierten Bewegungen. Die in vielen Ländern der Welt operierende „Kirche“ stammt zwar aus Südkorea, wird aber wesentlich von ihrer japanischen Anhängerschaft finanziert. In den 1980er Jahren gelang es ihr sogar, im akademischen Milieu Japan Fuß zu fassen. Die staatliche Universität Tsukuba galt damals eine Hochburg der Bewegung, die sich Japans Politikern vor allem durch strammen Antikommunismus andiente und damit eine seltsame Brücke zum südkoreanischen Nachbarn spannte, dessen Führung sich gleichfalls im Kampf gegen den Kommunismus sah und die Mun deshalb tatkräftig unterstützte. Tatsächlich wurde die Haltung der japanischen Liberaldemokraten und gerade auch die Haltung Abes gegenüber dem kommunistischen Nordkorea von den Vorstellungen der „Vereinigungskirche“ stark beeinflußt.
Dies hätte schon längst jeder wissen können, der sich ernsthaft mit der Rolle religiöser Bewegungen im Nachkriegs-Japan befaßt. Der Heidelberger Japanologe Wolfgang Seifert, ein Spezialist für die politische Ideengeschichte des modernen Japan, hat diese Sachverhalte schon 1974 in einem spannenden Aufsatz vorgestellt.1 Das enge Verhältnis von Abe und der Sekte galt in Japan als „offenes Geheimnis“.
Aber seltsamer Weise waren es fast nur die Kommunisten und einige mutige Zeitschriften, die es in der Vergangenheit auch immer wieder öffentlich thematisierten. Das Gros der Medien schwieg, und der größte Teil der japanischen Bevölkerung fiel aus allen Wolken, als diese Vorgeschichte des Attentats endlich ans Licht kam. LDP-Politiker hatten zuvor noch — teilweise unter unverhüllten Drohungen — versucht, die Ermittlungsbehörden daran zu hindern, die wirklichen Motive des Täters zu benennen.
Doch die öffentlichkeitswirksamen Auftritte japanischer Opferanwälte, die seit langen Jahren gegen die ruinösen Machenschaften der „Kirche“ kämpfen, durchbrachen nun das Schweigekartell. Eine Juristenvereinigung gegen Spirituellen Kommerz hatte Abe im September 2021 vergeblich davor gewarnt, eine Video-Grußbotschaft für einen Kongreß der „Kirche“ abzuliefern. („Spiritueller Kommerz“, reikan shōhō 霊感商法, sind Praktiken, mit denen Sekten Menschen durch das Versprechen auf spirituelles Glück oder andernfalls die Androhung von spirituellem Unglück dazu bewegen, überteuerte Dienstleistungen oder Gegenstände zu kaufen.) Abe schlug diese Warnung aus; der spätere Attentäter sah dieses Video, bastelte sich ein Gewehr, übte damit im Wald und erschoß Abe dann schließlich.

Daß die zu Abes Schutz eingesetzten Polizisten bei diesem Attentat kläglich versagten, fügt sich ins Bild. Niemand hat im Traum daran gedacht, Abes sinistre Allianz mit der religiösen Rechten könnte fatale Konsequenzen haben.
Offensichtlich spüren Regierung und LDP, daß die endlich zur Sprache gebrachte Komplizenschaft von Politik und Sekte in der Bevölkerung Unmut schüren könnte. Ministerpräsident Kishida hatte nahezu ohne jede Diskussion durchgesetzt, daß Abe ein Staatsbegräbnis erhält — wie es zuvor nur Yoshida Shigeru gewährt worden war. In der Bevölkerung stößt dies auf großes Unverständnis und wird als durchsichtiger Versuch betrachtet, den zu Lebzeiten umstrittenen Abe heiligzusprechen, um eine Diskussion über seine Politik und seine sehr durchmischte politische Bilanz zu verhindern. Falls dieser Unmut nicht bald gedeckelt werden kann, droht das eigentliche Projekt, dem sich die LDP und ihre Regierung verschrieben haben — die weitgehende Änderung der japanischen Verfassung — ein weiteres Mal zu scheitern, trotz gesicherter parlamentarischer Mehrheiten. Denn die Wahlbevölkerung muß ihr zustimmen. Das Vertrauen gegenüber den Politikern, die eine solche Änderung forcieren wollen, ist nun aber ins Wanken geraten. So könnte es sein, daß das Staatsbegräbnis für Abe zugleich die Beerdigung der Verfassungsträume bedeutet. Heute wurde deshalb eilig ein anderer LDP-Hardliner, Kōno Tarō, von der Regierung damit beauftragt, eine Arbeitsgruppe zum Thema „Spiritueller Kommerz“ zu organisieren.
Natürlich bleibt der Mord an Abe ein Mord. Die Opferanwälte und kritische Journalisten haben aber die Öffentlichkeit inzwischen dafür sensibilisiert, daß das Motiv für diesen Mord keinesfalls zufällig und aus heiterem Himmel entstanden ist, sondern im Schatten — man könnte auch sagen: in der Schattenwirtschaft — der japanischen Politik herangewachsen ist.


1 Wolfgang Seifert: „Genri“-Bewegung und „Internationale Föderation für die Ausmerzung des Kommunismus“ — die politische Aktivität einer neuen religiösen Sekte in Japan. In: Die Dritte Welt 3:3–4 (1974), S. 409–427.