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Verlaufen, geflohen, entführt: 84.850 Vermißte in Japan 2017

Es ist in Deutschland nicht leicht, die Gesamtzahl der Menschen zu erfahren, die bei der Polizei als vermißt gemeldet werden. „Täglich werden jeweils etwa 250 bis 300 Fahndungen neu erfasst und auch gelöscht“, heißt es beim Bundeskriminalamt dazu lapidar. Das ergibt also eine minimale Fallzahl von 91.250 Vermißten. Nehmen wir der Bequemlichkeit halber also an: 100.000 pro Jahr. Genaueres ist nicht bekannt, weil das früher regelmäßig veröffentlichte Kapital „Vermißte“ in der gesamtdeutschen Kriminalstatistik aus nicht nachvollziehbaren Gründen schlicht verschwunden ist. Man weiß also in Deutschland z.B. auch nicht, Menschen mit welchen Merkmalen — Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand — am stärksten gefährdet sind.
Japans Polizei geht ganz anders vor. Jährlich wird die Zahl der Vermißtenfälle veröffentlicht und statistisch sauber analysiert. 2017 wurden demnach 84.850 Menschen vermißt. Das wären also deutlich weniger als in Deutschland und damit rund halb so viele Fälle pro Kopf der Bevölkerung (in Deutschland: rund 121 Fälle je 100.000 Einwohner, in Japan: 67 Fälle je 100.000 EW).
Von diesen 84.850 Menschen wurden laut Polizei 55.939 Menschen als „Sonderfälle“ (特異行方不明者) eingestuft. Ein Teil von ihnen gilt als Opfer von Verbrechen oder eines Suizids. 2017 betrug die Zahl der Selbstmörder in Japan 21.140. Die Zahl der Ermordeten wurde 2017 mit 284 angegeben.
Von den verbleibenden 34.515 „Sonderfällen“ sind ein Teil Jugendliche, die (z.B. aus Angst vor Mißhandlung) von ihren Erziehungsberechtigten geflohen sind; ein weiterer Teil unentdeckt gebliebene Opfer von Naturkatastrophen und Verkehrsunfällen; und schließlich Menschen, die wegen geistiger oder körperlicher Behinderungen als hilflos und gefährdet gelten. Die japanische Polizei setzt die Zahl der möglicherweise dementen Vermißten für das Jahr 2017 auf 15.800 Menschen an — das sind mehr als je zuvor.
Das Problem ist nicht neu. Als ich in den 1990er Jahren in Japan auf dem Land lebte, gab es etwa einmal in der Woche eine Lautsprecherdurchsage der Gemeindeverwaltung: Der oder die greise XY werde seit dem Morgen vermißt. Er/sie sei so und so bekleidet und finde wahrscheinlich von selbst nicht mehr nach Hause zurück …
Mit der wachsenden Vergreisung der Gesellschaft hat die Zahl solcher Fälle zugenommen. Um Abhilfe zu schaffen, probiert man in Japan unterschiedliche Wege aus. Sie sind allerdings aus Datenschutzsicht höchst problematisch.
Zum einen beteiligen sich rund 10.000 „convenience stores“, also rund um die Uhr geöffnete kleine Supermärkte, an der Überwachung greiser Kunden. Sie haben mit den Lokalverwaltungen verabredet, Alte, die offensichtlich orientierungslos zu ihnen kommen, zu „beobachten“. In der Tat sind solche Läden, die regelmäßig auch kleine preiswerte Mahlzeiten verkaufen, häufig die Anlaufstelle für Menschen, die sich etwas zu essen besorgen oder auch nur einmal am Tag ein Gespräch führen wollen, um der Alterseinsamkeit zu entfliehen.
Auf Kyūshū präpariert man die Schuhe gefährdeter Menschen mit einem kleinen Sender. Passanten, deren Smartphones mit einer speziellen Anwendung ausgerüstet sind, empfangen deren Signal und leiten die Information über den Standort dieser Personen automatisch weiter.
Auf der Insel Shikoku befestigt man an der Kleidung der Alten einen QR-Barcode. Er enthält ihren Gesundheitszustand und Kontaktinformationen. Mit Hilfe eines Smartphones kann dieser Code gelesen und eine Email an ihre Verwandten gesendet werden.
Andernorts setzt die Polizei auf Handvenenerkennung: Da bei alten Menschen die Fingerabdrücke häufig nicht mehr gut zu bestimmen sind, registriert sie die Venenmuster ihrer Handinnenflächen für den Fall der Fälle.
Eine Gesamtstrategie läßt sich daraus nicht erkennen. Aber immerhin ist das Problem erkannt. Es geht ja immerhin um rund 16.000 Betroffenen pro Jahr. In Deutschland dagegen herrscht zu dieser Frage staatlicherseits bisher nur Schweigen.