- Kotoba 古都薔 - https://kotoba.japankunde.de -

Jeju Forum 2016

Unter dem Thema „Asia’s New Order and Cooperative Leadership“ fand vom 25. bis 27. Mai auf der südkoreanischen Insel Jeju (Cheju) 済州島 das 11. Jeju Forum statt. Die Provinz Jeju und die südkoreanische Regierung investieren jeweils eine Menge, um dieses Forum zu einem in ganz Ostasien und darüber hinaus beachteten Event zu machen. Das ständige Motto des Forum — „For Peace & Prosperity“ — verweist bereits auf die politischen Schwerpunkt: Friede und Verständigung auf der einen Seite, Wirtschaftskooperation auf der anderen. Oder besser gesagt, beides zusammen als die beiden Seiten derselben Medaille.
Wegen des ausgesprochen auf Verständigung ausgerichteten Gesamtprogramms scheuen sich auch hochrangige Vertreter der Nachbarländer nicht, die Einladung nach Jeju anzunehmen. Entsprechend groß ist das Aufgebot der Prominenz, wenngleich ein Übergewicht des Gastgeberlandes weiterhin besteht.
Die Northeast Asia History Foundation, mit der ich bereits mehrfach zusammengearbeitet habe und die ebenfalls „Peace and Prosperity“ in ihrem Schilde führt, lud mich ein, in Jeju als Redner an einem Panel zum Thema Vergangenheitsbewältigung teilzunehmen. Also fuhr ich gern hin und nahm das breite Spektrum der Veranstaltung wahr.

Nukleare Sicherheit

Das erste Panel, das ich besuchte, beschäftigte sich mit nuklearer Sicherheit im Zeichen des Terrorismus. Der japanische Vertreter (ein Diplomat mit langer Erfahrung in der IAEO) nannte denn auch gleich den Terrorismus die größte Bedrohung für nukleare Sicherheit; seit 2001 werde dies so wahrgenommen, und die seither abgehaltenen
vier internationalen Konferenzen hätten gemischte Ergebnisse gezeigt: Die Sicherheit der atomaren Abfälle habe man zu ca. 50 % im Griff, ebenso die Kontrolle der Containerschiffe. Grenz- und Zollkontrollen möglicher Transportwege nuklearen Materials seien zwar machbarkeit, müßten aber national finanziert werden. Japan habe freiwillig große Teile seines waffenfähigen Plutoniums an die USA zurückgegeben. Japan, Südkorea und China hätten centers of excellence eingerichtet, die als Ausbildungszentren auch für andere Länder dienten; er betrachte dies als durchaus willkommene Konkurrenz dieser Länder.
Der australische Vertreter bedauerte demgegenüber, es gebe keine internationalen Standards für nukleare Sicherheit oder Kontrollen; der IAEO-Haushalt sei zu klein dafür. Deshalb beschränke sich alles im Moment auf freiwillige Beiträge einzelner Länder (außer Japan hätten 15 von 25 Staaten bisher ihr waffenfähiges Plutonium abgegeben). Peer review für Sicherheitsstandards sei notwendig, werde aber oft aus Geheimhaltungsgründen abgelehnt. Dies führe möglicherweise zu Verunsicherung in der Bevölkerung. Sein Vortrag gipfelte deshalb in der Behauptung: „Die Aufgabe der Atomenergie wegen eines Vertrauensverlustes in der Bevölkerung wäre in niemandes Interesse, da wir sie brauchen, um den Kohlenstoffausstoß zu reduzieren.“
Der pakistanische Vertreter bedauerte, die internationalen Konferenzen hätten bislang nur begrenzte Ziele verfolgt, nicht aber die notwendige nukleare Abrüstung. Die Kontrolle heimlicher oder unsichtbarer Atomprogramme sei naturgemäß weiterhin nicht nicht möglich. Am meisten Sorge bereite ihm jedoch nicht die Sicherheit (security), sondern die Ungefährlichkeit (safety) der Atomtechnologie: Der Bau von AKWs nahe großen Städte sei unverantwortlich. China baue derzeit ungeachtet aller Proteste aus der Bevölkerung und Wissenschaft jedoch zwei Mega-Reaktoren nahe der Metropole Karatschi, was riesige Risiken berge.
Der Vertreter Chinas ließ dies unkommentiert, forderte jedoch, Plutonium solle von zivilem Gebrauch völlig ausgeschlossen werden. Die Katastrophe von Fukushima 2011 habe China schockiert und zu einer kompletten Revision der eigenen Atomtechnologie bewogen. China baue seine Reaktoren deshalb um und biete diese Konvertierung auch in Afrika an. Er bedauerte, daß der notwendige Austausch von best practice in der Technologie wegen nationaler Geheimhaltung immer noch auf Widerstand stoße.
Ich erlaubte mir in der Fragestunde den Hinweis, daß Japan laut Wikileaks-Dokumenten nach 2001 unter amerikanischer Aufsicht mehrere Stresstests, darunter auch die Simulation eines nordkoreanischen Terrorangriffs, durchgeführt habe, und fragte, ob die IAEO die Ergebnisse dieser Tests kenne und wer die Agenda für solche Tests vorgebe. Der japanische Diplomat erwiderte (nicht ganz unerwartet), er habe keine Kenntnis von diesen Tests. Offenbar haben japanische Diplomaten keinen Zugang zum Internet.

Johan Galtung zu Nordkorea

So wenig mich diese Statements der Nuklearexperten überzeugten, so wenig konnte ich mit dem anfangen, was der Friedensforscher Johan Galtung zur Überwindung der Teilung der koreanischen Halbinsel von sich gab. Galtung führt die Aggressivität von Staaten auf lang bestehende kulturelle Muster zurück („deep culture“); statistisch betrachtet, seien die aggressivsten Staaten die USA, Israel, Großbritannien und die Türkei. Alle seien Anhänger abrahamitischer Religionen, was kein Zufall sein könne. Nordkorea versuche nur, sich gegen die USA zu verteidigen. Doch „auf der gesamten koreanischen Halbinsel sehe ich eine Menge Dummheit.“ Die Südkoreaner sollten mit dem Norden geduldig sein, denn es gebe auch dort ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. „Unterschätzen Sie die Kraft des Geistes nicht!“ Das war alles, mit Verlaub, das wenig hilfreiche Raunen eines Altmeisters des Kulturalismus.

Kulturelle Diversität

Einige Veranstaltungen waren mehr oder weniger rein koreanische Podien, so auch das Panel zu kultureller Diversität in Ostasien. Es begann mit dem Statement eines jungen Wissenschaftlers der Cheju Halla-Universität, der meinte, Ostasien müsse zu einer gemeinsamen Wertebasis („asiatischen Werten“) finden, um sich in der Welt zu behaupten. Deshalb müßten die Regierungen den kulturellen Austausch fördern. Ein preisgekrönter chinesischer Professor für Marketing blies ins nahezu selbe Horn: Ostasien müsse sich gegen den Kulturimperialismus der USA behaupten, der Asiens Kultur bedrohe. Das mochte der gebürtige Japaner Yuji Hosaka von der Sejong-Universität — seit 2003 Koreaner, wie er mehrfach betonte — nicht so stehen lassen: Korea müsse sich aus geopolitischen Gründen zwischen China (Landmacht) und Japan (Seemacht) entscheiden, denn die politischen Konflikte verhinderten eine kulturelle Kooperation. Japan und Korea stünden sich politisch-wertemäßig näher als China, deshalb sei klar, wie die Wahl auszufallen habe. Dem widersprach der junge Kollege aus Jeju vehement: Die Wiederaufwertung der Geopolitik sei eine jüngere japanische Masche, um Korea einzufangen. Hosaka betonte abermals, er sei Koreaner und nicht Japaner. Ein ehemaliger Ministerialbeamter hob (nicht ganz im Sinne des Panelthemas) hervor, kulturelle Identität sei wichtiger als Diversität. So wurde am Ende nicht ganz deutlich, was die eigentliche Absicht des Panels gewesen sein sollte, obwohl die Thematik ja nicht so ganz neu gewesen sein dürfte. Dasselbe Problem entsteht jedoch regelmäßig, wenn Politologen und Wirtschaftswissenschaftler über historische Prozesse sprechen, von denen sie, milde gesagt, keine Ahnung haben. Auf meine Frage, was außer Eßstäbchen die heutigen Ostasien denn kulturell gemeinsam hätten, nannte der junge Politiker allen Ernstes die Hofmusik der Tangzeit (jap. Gagaku 雅楽); zudem benutze man in Südkorea heute wieder mehr chinesische Schriftzeichen.

Geopolitische Spannungen

Die Geopolitik stand auch bei einem anderen Panel Pate; es ging um geopolitische Spannungen und deren Auswirkungen auf die Atomwaffenstrategien der ostasiatischen Staaten.
Der chinesische Vertreter führte aus, die nukleare Aufrüstung habe bisher zu keiner Veränderung der strategischen Situation geführt — nirgendwo. China habe bislang nur soviel A-Waffen auf einem Niveau gehalten, daß es mithalten konnte. Lösungen der politischen Konflikte könnten deshalb nicht durch Abrüstung erzielt werden. Nordkoreas Nuklearpolitik sei völlig außer Kontrolle Chinas.
Ein Vertreter aus Princeton pflichtete ihm bei, Nuklearwaffen seien nicht die Ursache der Spannungen. China habe jedoch seine Position verändert: von konstruktiv zu Konkurrenz mit USA; beide Seiten seien jetzt dabei, ihr Arsenal zu modernisieren, um nicht zurückzubleiben. Es sei deshalb ein realistischer Dialog über strategische Verwundbarkeit nötig.
Ein südkoreanischer Spezialist (und ehemaliger Diplomat) für Nordkorea konstatierte, Amerikas und Chinas Nuklearpolitik habe versagt wegen ihrer wachsenden Konkurrenz. Ihre Konkurrenz werde weitergehen, sei aber nicht das Hauptproblem für Ostasien. Die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel werde gar nicht ernsthaft verfolgt. Südkorea sei das Hauptziel der nordkoreanischen Aufrüstung; ihm werde von den Supermächten unfreiwillig die Last für strategische Entscheidungen auferlegt, z.B. Raketenabwehr. Die bisherige Abkommen mit Nordkorea seien an Synchronisation gescheitert; die westlichen Staaten sollten in Zukunft vorangehen, um Vertrauen zu bilden. Sanktionen allein würden NK wohl nicht überzeugen. Sollte Trump Präsident der USA werden und die Verteidigung regionalisieren, sei vorstellbar, daß Südkorea und Japan nuklear aufrüsten.
Ein japanischer Friedensforscher aus Nagasaki führte dazu aus, einige japanische Politiker wollten die nukleare Option offenhalten, doch Bevölkerung sei mehrheitlich dagegen. Japan sollte mit Blick auf Nachbarn auf nukleare Option verzichten. Er schlug vor, Japan, Nord- und Südkorea sollten gegenseitig auf A-Waffen verzichten; der angestrebte Plutonium-Zyklus sollte beendet werden; Japan sollte einen multilateralen Ansatz für die Plutonium-Entsorgung verfolgen (Südkorea scheine das auch zu wollen). Er mußte allerdings zugeben, daß Haltung der gegenwärtigen japanischen Regierung in diesen Fragen anders aussehe.

Ein neues Forum für die Vergangenheitsbewältigung

Auch Juristen haben ihren eigenen Blick auf die Vergangenheit. Koreanische Experten untersuchten, welche Möglichkeiten das Völkerrecht in seinen neuesten Entwicklungen mit Blick auf die Streitpunkte zwischen Japan und Korea (Trostfrauen, Dokdo/Takeshima) biete. Ein Juraprofessor der Korea-Universität vertrat dabei die Auffassung, die 2015 erzielte japanisch-koreanische Übereinkunft zur Lösung der Trostfrauen-Frage sei nicht ausreichend, weil sie einseitig auf dem von japanischer Seite gepflegten Positivismus beruhe. Dies sei ein Erbe des westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Ein Kollege pflichtete ihm bei: Japan habe 1965 mit Korea einen Ungleichen Vertrag geschlossen (gemeint ist der Japanisch-Koreanische Grundlagenvertrag), wodurch es bis heute einseitig im Vorteil sei. Es bedürfe deshalb einer ostasiatischen Weiterentwicklung des Völkerrechts, um Gerechtigkeit durchzusetzen.
Einzig der Pakistaner Asif Qureshi, der heute gleichfalls an der Korea-Universität lehrt, gab zu bedenken, die Vergangenheit sei nicht sinnvoll mit juristischen Mitteln aufzuarbeiten. Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Verwandten seien stets höchst emotional beladen und ließen sich durch Prozesse nicht wirklich lösen. In solchen Fällen sei es wirksamer, die Wahrheit feststellen und niederschreiben zu lassen. Er schlug dazu die Einrichtung eines internationalen Expertenforums vor. Das war aus meiner Sicht ein Lichtblick dieser Veranstaltung, auf der bezeichnenderweise kein einziger Japaner das Wort ergriff.

Ban Ki-moon

Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, wird angesichts der Misere der jetzigen Präsidenten Park als kommender Präsidentschaftskandidat der Konservativen gehandelt. Entsprechend trat er auf dem Forum auf und bekannte sich zu seinen koreanischen und asiatischen Wurzeln.
Asien müsse seine Territorialkonflikte lösen und historische Probleme lösen, wie dies in Afrika, Lateinamerika und Europa gelungen sei. „We need patriotism, not nationalism.“
Die UN-Sanktionen sollten Nordkorea zu nuklearer Abrüstung bewegen. Nordkorea solle zum Dialog zurückkehren und seine internationalen Pflichten erfüllen.
Die Regionale Kooperation in Asien müsse nach dem Handel nun auch die Menschenrechte umfassen. Intoleranz, Haß und Unfreiheit hätten in Teilen Asiens besorgniserregend zugenommen. Flüchtlinge müßten aber überall menschlich aufgenommen werden.

Mahathir bin Mohammad

Der ehemalige malaysische Ministerpräsident Mahathir sprach sich dafür aus, Krieg als ungesetzlich zu ächten. Wenn es ein Verbrechen sei, einen Menschen zu töten, dann müsse Krieg auch ein Verbrechen sein. Auch die Sklaverei sei früher universal verbreitet gewesen und sei heute ausgerottet. Die ASEAN wurde gegründet, um Krieg zu verhindern. Malaysia habe seine zahlreichen Territorialkonflikte friedlich gelöst und die Urteile internationaler Gerichte stets akzeptiert. Krieg sei teuer. Ein Nuklearkrieg könne die gesamte Menschheit auslöschen. Die Ächtung des Krieges werde lange dauern, doch „auch eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt“.

Murayama Tomiichi

Japans ehemaliger Ministerpräsident Murayama Tomiichi 村山富市 kritisierte seinen Nachfolger Abe Shinzō dafür, seine berühmte Entschuldigung für Japans Übeltaten im Zweiten Weltkrieg 2015 nur halbherzig übernommen zu haben. Japan müsse sich zu seiner vollen Verantwortung bekennen. Abe solle allen überlebenden Trostfrauen einen persönlichen Entschuldigungsbrief zukommen lassen. Japan müsse auch anerkennen, daß es wegen der Senkaku-Inseln ein Territorialproblem mit China gebe. Die Inseln sollten gemeinsam genutzt werden. (Von Takeshima/Dokdo sprach Murayama nicht.)
Murayama und Mahathir auf dem Jeju-Forum 2016
Nach den Auftritten dieser (ziemlich ehemaligen) „World Leaders“ stürmten chinesische Touristen das Podium, um Fotos von den Prominenten zu machen. Die Moderatorin forderte sie auf Chinesisch auf, das Podium zu verlassen; sie mahnte sogar: „The situation is getting out of control!“ Erst nach 10 Minuten hatte sich die Lage wieder beruhigt.

Hatoyama Yukio

Eine weitere Schlüsselrede hielt der ehemalige japanische Ministerpräsident Hatoyama Yukio 鳩山由紀夫. Er kritisierte den gleichzeitigen G7-Gipfel für unnötige harsche und einseitige Äußerungen gegenüber China, Nordkorea und Rußland. Der Dialog mit Nordkorea müsse geduldig geführt werden. Alles in allem sei die Lage in Ostasien heute deutlich schlechter als noch zu seiner Amtszeit (2009–2010). Er forderte, auf Jeju und auf Okinawa eine ständige Konferenz für Zusammenarbeit einzurichten, die sich zunächst mit kulturellen und wirtschaftlichen Fragen befassen solle und zu der Nordkorea unbedingt zugelassen werden solle. Auf diese Weise solle Vertrauen geschaffen werden, um anschließend über eine Friedensordnung zu verhandeln. (Die naheliegende Forderung, auch Taiwan an diesem Prozeß zu beteiligen, erhob Hatoyama unverständlicherweise allerdings nicht.)

Hatoyama Yukio auf dem Jeju-Forum 2016

Organisation

Das Forum war sehr professionell organisiert. Das ICC ist hochmodern, die Räume gut ausgestattet (nur das WiFi ließ man uns nicht nutzen). Es gab gutes Essen, ein kleines Exkursionsprogramm von lokalen NGOs, und überall halfen junge Leute mit Rat und Tat. Sie sorgten auch für die Simultanübersetzungen ins Englische, Chinesische oder Japanische. Das ging mal besser, mal weniger gut. Man merkt eben schon, daß eine gediegene Allgemeinbildung heute weltweit Mangelware ist (eine Studentin wußte z. B. nicht, was „Kamikaze“ bedeutet). Der gute Wille war aber überall spürbar.