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Nimmt Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Fukushima wirklich zu?

Für mediale Aufregung sorgt der Aufsatz eines japanischen Forschungsteams, der in der Oktober-Ausgabe der Online-Zeitschrift Epidemology erschienen ist. Die Autoren, angeführt von Tsuda Toshihide 津田敏秀 von der Universität Okayama, haben darin die Ergebnisse der ersten Reihenuntersuchungen an den Schilddrüsen von rund 300.000 Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren in der Präfektur Fukushima seit 2011 untersucht und kommen zu dem Schluß, die dabei entdeckten 110 Fälle von Schilddrüsenkrebs bedeuteten „einen etwa 30-fachen Anstieg der Anzahl von Fällen von Schilddrüsenkrebs unter Kindern und Heranwachsenden“ gegenüber dem nicht der Strahlung aus dem AKW-Unfall von Fukushima ausgesetzten Rest Japans. Daraus schließen sie umgekehrt, daß die Strahlenbelastung der Bevölkerung von Fukushima „beträchtlich höher“ gewesen sein könne als bisher angenommen. Daß die hohe Fallzahl auf einen „Screening-Effekt“ zurückgeführt werden könne (also die durch die Reihenuntersuchung erfolgte Entdeckung von Krebserkrankungen in einem Anfangsstadium, die normalerweise wesentlich später oder nie erfolgt wäre und damit die Statistik verzerrt), halten die Autoren für „unwahrscheinlich“.
Tsuda und sein Team haben diese Bewertung allerdings bereits seit 2013 öffentlich vertreten. Unterstützung erhalten sie vor allem aus dem Lager derjenigen, die schon vor den epidemologischen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe warn(t)en, wie der schweizerische Biophotoniker Marcel Leutenegger, der die Daten der Schweizer Krebsstatistik heranzieht, um einen Screening-Effekt in Fukushima auszuschließen; dieser könne maximal einen Anstieg der Zahlen um das Zwei- oder Dreifache erklären.
Aber so einfach ist die Sache nicht. Ausgerechnet das benachbarte Südkorea ist von einem „Schilddrüsenkrebs-Tsunami“ überrollt worden, wie sich ein Experte ausdrückte: Binnen zwei Jahrzehnten stieg dort die Zahl der entdeckten Schilddrüsenkrebse um das Fünfzehnfache. Und zwar exakt, seit die dortige Regierung vor 15 Jahren regelmäßige Krebsvorsorgeuntersuchungen verordnete. Nun gilt dort Schilddrüsenkrebs als die häufigste aller Krebsarten. Allerdings ist die Zahl der dieser Krebsart zuzuordnenden Todesfälle im selben Zeitraum kaum gestiegen. Wissenschaftler sind sich deshalb einig, daß der Anstieg einen klassischen Fall von Screening-Effekt darstellt: Der latent vorhandene Krebs ist durch die Untersuchungen lediglich sichtbarer geworden. „Überdiagnose“, konstatieren die Wissenschaftler — und zwar mit durchaus gefährlichen Ergebnissen, denn die Nebenwirkungen einer überflüssigen Behandlung von Schilddrüsenkrebs können zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität führen.
Die Untersuchungsergebnisse in Südkorea entstanden nicht durch Reihenuntersuchungen, sondern beim Hausarzt-Besuch. Sie beschränkten sich auch nicht auf Kinder und Jugendliche, deren Schilddrüsen wesentlich anfälliger für Krebs sind als diejenigen von Erwachsenen. So ist zu vermuten, daß der Anstieg beschränkt auf diese Altersgruppe noch erheblich deutlicher — die Forschung spricht vom 25-fachen gegenüber Erwachsenen — ausgefallen wäre. Stellen wir dies in Rechnung und nehmen an, daß bei ähnlichen Diagnoseverfahren wie in Südkorea auch in Japan während der letzten 15 Jahre ein ähnlicher Anstieg der Fallzahlen zu erwarten gewesen wäre, lassen sich die Ergebnisse aus Fukushima tatsächlich doch als Screening-Effekt interpretieren. Es besteht demnach kein Grund, die Ergebnisse aus Fukushima übermäßig zu dramatisieren.