Natürlich bin ich auch früher schon mit dem Fahrrad in Tokyo herumgefahren — allerdings nie längere Strecken, immer nur zum Einkaufen oder zum nächsten Postamt oder zur Schule. Und nicht besonders regelmäßig.
Nun hat es sich aber ergeben, daß ich jeden Tag von Kokubunji nach Fuchū pendele, was laut Google rund 7 km je Strecke sind. Das hat nun schon eine andere Qualität, so daß ich endlich davon sprechen kann, „durch“ Tokyo mit dem Fahrrad zu fahren.
Und schon lernt man das Land von einer anderen Seite kennen. Autofahren ist ja mangels Gelegenheit zum schnellen Fahren eher eine beschauliche Angelegenheit. Aber Radfahren kann ein Abenteuer sein.
Als erstes bin ich jetzt ständig auf der Suche nach den schönsten Abkürzungen. Immer nur die Hauptstraßen endlangzuradeln ist eben langweilig, oft auch ästhetisch unbefriedigend (zu laut, zu eng) und zudem gefährlich, sofern es keine halbwegs passablen Bürgersteige gibt (was die Regel ist). Das bedeutet aber auch, jede Menge Sackgassen zu entdecken und sich dann zu überlegen, wie man am elegantesten weiterkommt.
Auf dem Fahrrad benehmen sich Japaner zwar nicht grundsätzlich anders als im Leben auf zwei Beinen, aber gewisse Charakterzüge treten offenbar stärker hervor. Die Tendenz zur Kleingruppenbildung z.B., insbesondere von Mittelschülern demonstriert, denen es gelingt, zu viert bis zu zwölft im Schrittempo ganze Passagen zu blockieren (harmlose Variante) oder, ohne nach links und rechts zu schauen, plötzlich im Rudel bei Rot in eine Kreuzung einzubiegen, die ich gerade queren wollte. Also: Vorsicht vor Mittelschülern — sie radeln selten allein.
Sich nicht umzusehen, sondern sorglos vor sich hin zu radeln, noch dazu je nach spontaner Eingebung mal auf der linken, mal auf der rechten Seite des (meist schmalen) Bürgersteiges — das charakterisiert dagegen den Einzelfahrer. Durchschnittstempo 5 Stundenkilometer.
Rote Ampeln gibt es nicht wirklich. Einem Radfahrer sind keine legalen Hindernisse gesetzt. Es sei denn, man radelt wie ich im Rekordtempo über die Tōhachi Dōro 東八道路 (eine bemerkenswerte 30 m breite Hauptstraße zwischen Kunitachi und Mitaka), die ganz ausgezeichnete kombinierte Rad- und Fußwege besitzt (eigentlich sind hier alle Bürgersteige kombinierte Rad- und Fußwege). Todesmutig eine rote Ampel hinter mir lassend, höre ich zu meiner Überraschung hinter mir eine Stimme per Lautsprecher rufen: „Unterlassen Sie es bitte, bei Rot über die Straße zu fahren!“
In meiner gesamten, in Japan verbrachten Zeit hatte ich noch nie einen unliebsamen Kontakt mit der hiesigen Polizei. Und ausgerechnet heute, an einem Sonntagvormittag, fährt eine Streife in der schicken hellblauen Uniform der Motorradpolizisten diese Straße entlang …
Leider fällt es mir immer sehr schwer, japanische Lautsprecheransagen simultan zu verstehen. Ich bin also ungerührt weitergeradelt. Schuldbewußtsein sollte man ohnehin als Radfahrer nicht zeigen. Der Polizist zog an mir vorbei und warf mir nur einen prüfenden Blick zu. Dann war er verschwunden.
Übrigens gibt es auch im Sommer in Tokyo gelegentlich Regen. Wenn beispielsweise irgendwo ein Taifun vorbeizieht. Dann fühlt man sich nach einer halbstündigen Radelei besonders erfrischt. Immerhin regnet es dabei nicht konstant am selben Ort in immer derselben Intensität, sondern es fängt ganz leicht und harmlos an, wird dann auf halber Strecke ein richtiger Platzregen und ebbt wieder so weit ab, daß meine Leute, die mich pitschnaß ankommen sehen, überrascht fragen: Ach — hat’s geregnet?
Ja, sicher, es regnet manchmal. Halb so schlimm, wenn man einen Regenschirm dabei hat. Das habe ich hier inzwischen auch schon gelernt: Wie man mit dem Regenschirm in einer Hand Fahrrad fährt. Durchschnittstempo 10 Stundenkilometer.